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Dienstag, 26. Juni 2018

Trauer als Krankheit - das sind die nächsten Schritte auf dem Weg zum "ICD 11", der vieles in Sachen Trauer neu regeln soll - WHO legt jetzt einen zeitlichen Ablaufplan zur Einführung vor, Start ist 2022

Osnabrück - Wohl kaum ein Thema hat die Menschen aus Hospiz-, Palliativ- und Trauerbegleiter-Kreisen in jüngster Vergangenheit so dermaßen bewegt wie die Diskussion um die so genannte "ICD 11", also der derzeit in Überarbeitung befindlichen Klassifikation/dem Regelwerk für alle Codierungen bzw. Diagnoseschlüssel, mit denen alle niedergelassenen Haus- und sonstigen Ärzte arbeiten. Dort gibt es für so ziemlich alles einen Schlüssel. Fast alles. Nur für Trauer noch nicht, was sich aber bald ändern soll. Wie die Wochenzeitung "Die Zeit" in ihrer Ausgabe vom 21. Juni 2018 berichtet, steht jetzt zumindest der zeitliche Fahrplan für die Einführung der ICD 11 fest: Demzufolge wurde eine erste Arbeitsversion der neuen ICD in der vergangenen Woche vorgestellt, verabschiedet werden soll das ganze erst im kommenden Mai auf der Welt Versammlung der Weltgesundheitsorganisation und gültig in Kraft treten am 1. Januar 2022 (wenn Du genau wissen willst, was sich ab 2022 alles geändert hat, dann lies mein Update zu diesem Thema). 

Bislang ist es technisch gesehen nicht möglich, sich alleine wegen Trauer von Fachleuten weiter behandeln zu lassen. Denn Trauer und deren Folgen sind so einfach nicht vorgesehen – jedenfalls nicht im Diagnose-System der Weltgesundheitsorganisation, der ICD ("International Statistical Classification Of Disease and Related Heath Problems"), die bei allen Hausärzten und niedergelassenen Ärzten zum Einsatz kommt. Jedoch ist unbestritten - auch bei den meisten Kritikern -, dass es Menschen gibt, die sich wegen Trauer krankschreiben und von Fachleuten behandeln lassen. Oder besser gesagt wegen der durch ihre Trauer ausgelösten Symptome. Seit einigen Jahren tobt eine heftig geführte Debatte über die Frage: Darf man Trauer überhaupt als "Krankheit" werten? Oder ist das stigmatisierend? Und hier haben alle Fachleute, Hospizler und alle Trauerbegleiter - auch ich - eine sehr klare Meinung und Stellung dazu: 


Krankgeschrieben wegen Trauer - ab 2018 soll das laut der ICD 11 möglich sein. Aktuell ist der Plan jedoch umstritten.   (Achenbach-Foto)

Trauer ist eben keine Krankheit, sondern eine vollkommen natürliche, menschliche Reaktion. Das Gegenstück zur Freude. Die lässt sich ja auch nicht irgendwie verhindern. Aber: Trauer kann auch krank machen. Auch das ist unbestreitbar so. Und so tobt die Diskussion derzeit immer weiter, so, wie ich es bereits vor kurzem hier auf diesem Blog geschildert habe. Leider gibt der "Zeit"-Artikel nun keinen Aufschluss darüber, wie der aktuelle Stand in Sachen Trauer ist, weil er auf vielerlei andere Änderungen in der kommenden ICD eingeht, aber eben nicht auf diese. Es wird also spannend sein zu erfahren, ob sich in dieser Sache etwas Neues getan hat. Sobald ich etwas erfahren sollte, gibt es einen neuen Sachstand auch auf diesem Blog

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Der Podcast zu diesem Blog: Warum eine bayerische Behörde mit einer bislang einmaligen Initiative zum Vorreiter in Sachen Trauerkultur wird - ein Interview

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum das Sterben in Deutschland seit Januar 2020 nochmal deutlich teurer geworden ist - Die so genannte Leichenschau steht in der Kritik

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Dienstag, 29. August 2017

Erst oberzappenduster, aber dann langsam wieder heller - wie sich Anja von "Ein Stück untröstlich" nach dem Tod ihres Partners aus der Dunkelheit herausgeschält hat - Interview mit der Bloggerin aus Lübeck & Tipps zum Umgang mit Trauernden

Osnabrück/Lübeck - Anja ist "ein Stück untröstlich". Auch heute noch, denn so heißt ihr Blog. Und trotzdem ist sie mitten im Leben. Als Ihr Mann Ende 2014 die Diagnose Hirntumor bekam, konnte keiner ahnen, dass ihm nur noch fünfeinhalb Wochen bleiben sollten. Was für ein Schock. Heute, durchaus noch im Trauerprozess, aber schon wieder bewegungsfähiger, beschreibt Anja ihre Gefühle und ihre Trauer in ihrem eigenen Blog (siehe hier); ganz ehrlich, ganz offen, ganz berührend. Wie sie ihren Trauerprozess erlebt hat, was sie darin geärgert hat und was ihr gut getan hat und warum das mit dem Begreifen so eine zwiespältige Sache ist, das erzählt sie in einem Interview, das ich gerne mit ihr führen wollte. Das Interview haben wir in drei Durchgängen per E-Mail durchgeführt - es ist, wie ich finde, sehr lesenswert geworden. Hier ist es: 

Anja, hast Du eine Ahnung, warum ich Dich so gerne interviewen wollte?

Anja: Huch? Darüber habe ich mir ehrlich gesagt gar keine Gedanken gemacht… Ich habe mich einfach gefreut… Lass mich mal überlegen: Du warst von meinem Charme und Humor total überwältigt. Nee, Moment, wir kennen uns ja noch gar nicht persönlich... :-) Dann warst Du wohl von meinem Schreibstil geflasht und dermaßen begeistert, dass Du nicht anders konntest, als mich zu fragen.... Naja, die Anzahl Blogger, die sich mit dem Thema Trauer und Tod beschäftigen, ist überschaubar – die Auswahl ist also nicht sooo riesig… Alle anderen haben abgesagt *g* Ich gebe auf – ich weiß es einfach nicht… Verrätst Du mir, warum?

Okay, ich will Dich nicht länger auf die Folter spannen: Weil Du auf Deinem Blog betonst, wie wichtig es Dir ist, dass viel mehr über Themen wie Tod, Trauer und Sterben gesprochen wird. Das habe ich mir selbst zum Credo gemacht. Überrascht?

Anja: Oooooch… doch nicht mein Schreibstil?!?! Hihi… Scherz… Wie cool, dass wir da so gut matchen. Und schwupps sind wir mittendrin im „Darüber sprechen“. Ich finde es toll, wenn wir es schaffen, die Themen weiter ins Leben zu rücken. Jeder einzeln für sich (Du auf Deinem Blog, ich auf meinem,…) und dann auch im Austausch miteinander, um den Kreis größer zu ziehen – vielleicht verändern wir die Welt gemeinsam ein kleines bisschen…?

Als Du Deinen Mann verloren hast, war es eine knallharte Zeit: Erst die Diagnose Hirntumor, wie aus dem Nichts. Und dann nach nur fünfeinhalb Wochen: Der Tod. Da muss man erstmal hinterherkommen. Wie lange ist das jetzt her?


Immer noch untröstlich, jedenfalls ein Stück - aber eines, das bleiben wird: Anja bloggt über ihren Trauerweg und gibt wertvolle Tipps für Trauernde.    (Ein-Stück-untröstlich-Foto/Anja)

Anja: Ohja, während der Phase habe ich Zeit überhaupt nicht realisiert. Erst im Nachhinein ist es immer wieder krass, wie kurz dieser Zeitraum war, der durch seine Intensität unglaublich viel Raum eingenommen hat. Ich freue mich übrigens, dass Du nach „meinem Mann“ fragst – offiziell waren wir nämlich nicht verheiratet. Da wir aber wie Eheleute gelebt und füreinander eingestanden haben ist es für mich ganz natürlich, ihn als meinen Mann zu bezeichnen. Andreas ist im November 2014 gestorben. Also (rechne…) etwas mehr als 2 ½ Jahre ist das her.

Ab wann war Dir klar, dass Du zu Deiner Geschichte einen Blog aufmachen wolltest – und wie kam das?

Anja: Das hat sich nach und nach entwickelt, denke ich. Ich habe im letzten Jahr viel auf Silke Szymuras Blog „In lauter Trauer“ gelesen und habe auch Kommentare hinterlassen. Dieser kleine Austausch mit ihr und den anderen Kommentierenden hat mich sehr inspiriert. Ich hatte dann immer häufiger eigene Einfälle und dachte mir, dass ich das mal aufschreiben könnte (hab ich aber nicht). Im März wurde ein Interview mit meiner Geschichte auf „Dein Tod und ich“ veröffentlicht. Und dann habe ich mich mit „Darf ich bitte trotzdem Witwe sein“ an Silkes Aktion „Alle reden über Trauer“ beteiligt. Das Feedback, das mich daraufhin erreicht hat, war überwältigend schön. Danach hat es bei mir „klick“ gemacht und ich habe mich tatsächlich intensiver mit dem Gedanken beschäftigt, einen eigenen Blog ins Leben zu rufen. Bis zur Umsetzung hat es dann noch ein wenig gedauert, aber seit dem 1. Juli laufe ich nun irgendwie ein bisschen nackt durch die virtuelle Welt... :-) Im Nachhinein kann ich nicht nachvollziehen, weshalb ich nicht viel früher mit dem Schreiben begonnen habe – egal, in welcher Form. Das Aufschreiben meiner Gedanken hat mir schon immer gut getan. Aber irgendwie war diese Option wohl bis dahin für mich blockiert und hat sich erst dann gelöst.

Gab es irgendwann in Deinem Trauerprozess einen Augenblick, wo Du aus vollem Herzen sagen konntest: Ja, es ist wahr, jetzt habe ich es wirklich begriffen, mein Mann lebt nicht mehr?

Anja: … als ich diese Frage das erste Mal las, saß ich hier *zack*, tränenüberströmt. Auch jetzt habe ich Tränen in den Augen… Puh…! Ich versuche mal eine Antwort: Mein Verstand hat begriffen, dass mein Mann nicht mehr lebt, als er aufgehört hat zu atmen. Ich habe Andreas ja beim Sterben begleitet, durfte da sein, als er starb. Da war dann dieser Zeitpunkt, als sein Körper aufgehört hat zu funktionieren… Er war noch eine Weile hier, bevor die Bestatter kamen. In der Zeit konnte ich beobachten und fühlen (begreifen im wahrsten Sinne des Wortes), wie sich sein Körper verändert hat, wie seine Seele nicht mehr in diesem Körper zu wohnen schien. Sein Körper war nur noch Hülle. Da war klar: er lebt nicht mehr, er ist fort… Tja, aber das ist wie gesagt der Verstand, der das begriffen hat. Das Herz… nun, das Herz spielt da nicht mit. Das ist es auch, glaube ich, was mich bei dieser Frage so anrührt. Mein Herz sagt mir: „Ich verstehe die Frage nicht… wieso soll ich begreifen, dass er nicht mehr lebt? Er ist doch noch immer noch da? Schau, hier, hier tief drin in mir ist er doch noch…?“ Also muss ich Deine Frage wohl mit „Nein, nie“ beantworten, oder? Das soll jetzt bitte nicht so wirken, als würde ich ignorieren, dass er gestorben ist. Ich führe mittlerweile ein glückliches Leben und fühle mich frei, liebe und lebe. Aber Andreas wird immer einen Platz in meinem Herzen behalten, ohne anderem Raum zu nehmen.

Dass Du beim Sterben dabei sein konntest, war sicher sehr wertvoll. Als ich Deine Antwort gelesen habe, musste ich an mein Lieblingszitat aus Julian Barnes‘ wunderbarem Buch „Lebensstufen“ denken: Wenn jemand tot ist, heißt das zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber es heißt nicht, dass es ihn nicht mehr gibt… Trifft es das? 

Anja: Ja, ich glaube, das kommt dem ziemlich nah. Mir fiel als Vergleich noch etwas Erklärendes ein, wie diese Liebe zum verstorbenen Partner weiter da sein kann. Du hast doch Kinder, oder? Das ist ein wenig so wie die Liebe zum eigenen Kind – die ist da und allumfassend, trotzdem kannst du deinen Partner von ganzem Herzen lieben. Das darf beides gleichzeitig da sein und keine Liebe stellt die andere in Frage. Ich glaube, so füllt uns auch die Liebe zu Verstorbenen. Sie bleibt, bereichert und wärmt uns, stellt aber keine anderen Gefühle in den Schatten. „Lebensstufen“ setze ich direkt mal auf meine Wunsch-Leseliste…

In Deinen dunkelsten Trauerphasen – wie dunkel war es da?

Anja: Oberzappenduster… es gibt kein passendes Wort, das diese Dunkelheit genau beschreiben kann.

Was hat Dir damals gut getan?
Anja: 
- eine stillschweigende Umarmung von meinem Sohn
- Telefonate mit meiner Trauerbegleiterin (Gisela Sender – mein Stern)
- Spaziergänge am Meer
- Whatsappen mit meiner Trauerbegleiterin
- „Aussteigen“ aus den Alltagsverpflichtungen, nicht funktionieren, still sein
- einmal hat mich ein Baum getröstet (klingt verrückt, gell? Bäume umarmen tut aber echt gut und bringt Energie… Hast Du das schon mal gemacht?)
- einer Freundin die Ohren vollsabbeln oder –heulen

Mich ablenken habe ich auch versucht – das hat aber nie lange funktioniert und anschließend war der Schmerz umso fieser. Übergreifend hat es mir immer gut getan, Orte aufzusuchen, wo ich für mich sein und Weite spüren kann (Meer, Wald,…) oder mich mit Menschen zu umgeben, die mich in meiner Trauer aushalten können und mich so lassen, wie ich bin.

Wie hat Dein Umfeld reagiert? Vor allem nach einer längeren Zeit?


Hat sich für ihren Blog sogar ein eigenes Logo malen lassen: So sieht die Startseite von "Ein Stück untröstlich" aus... (Screenshot)

Anja: Alle waren sehr hilfsbereit und gleichzeitig irgendwie hilflos… Ich habe schon während Andreas‘ Krankheitsphase sehr offen kommuniziert, was bei uns gerade los ist und wie ich mich fühle. Es gab überraschend schöne Reaktionen darauf und jede einzelne hat mir gut getan. Mir ging es auch am besten mit denjenigen, die ebenso mutig mit mir kommuniziert haben (mit einem „ich bin total sprachlos“ kann ich besser umgehen als wenn man gar nicht mit mir spricht…). Tja, nach längerer Zeit dann, da merkt man, wem man am Herzen liegt – wer macht diesen Trauermarathon mit? Wer bleibt auf der Strecke?
Mein Umfeld hat sich definitiv verändert. Zu den wenigen Marathonläufern haben sich neue wunderbare Menschen in mein Leben gesellt. Ich bin dankbar und glücklich, dass es nun so ist, wie es ist. Was ich gerade spannend finde: ich habe mir keine Sprüche anhören müssen wie „nun ist es aber auch mal gut. Es wird Zeit, dass du nach vorne schaust.“ Ich vermute, niemand hat sich getraut, mir so etwas zu sagen. Einerseits wohl, weil ich so offen kommuniziert habe, wie es mir gerade geht. Andererseits hat Gisela mich immer darin bestärkt, dass ich genau so richtig und gut unterwegs bin, wie ich es zu dem Zeitpunkt gerade bin. Mit meinen offenen Worten und mit Giselas Bestärkung habe ich wohl ein entsprechendes Selbstverständnis vermittelt, das keinen Widerspruch duldet J

Was hat Dich am meisten genervt in Deinem Trauerprozess? Oder wütend gemacht

Anja: Ich mag Deine Fragen, Thomas! Du solltest vielleicht mal überlegen, ob Du das beruflich machen könntest… Es gab Phasen, da war ich ungeduldig mit mir. Ich wollte bitte endlich wieder funktionieren, wieder „normal“ sein (äh, was ist das eigentlich?!?). Ich konnte mich manchmal selber nicht gut aushalten, das hat mich total genervt. Auch hier ein dickes Dankeschön an meine Trauerbegleiterin Gisela, die mir da den Kopf gerade gerückt hat und das auf eine soooo liebe Art und Weise… Was mich so richtig, richtig wütend gemacht hat, das war das Verhalten der Verwandten meiner Schwiegermutter. Ohne Trauschein war ich nach Andreas‘ Tod quasi nicht existent, obwohl ich trotz meiner eigenen Trauer immer und überall für meine trauernde Schwiegermutter da war. Hinzu kommt dieses Ohnmachtsgefühl den Behörden gegenüber. Als Lebenspartnerin darf man zu Lebzeiten zwar immer für den Partner geradestehen, Kost und Logis und alles teilen – aber nach dem Tod verschwindet man in einer Art Nicht-Existenz ohne Rechte… Einen großen Teil dieser Wut habe ich in meinem Artikel „Darf ich bitte trotzdem Witwe sein“ verarbeitet. 

Was würdest Du sagen: Wie weit bist Du in Deinem Prozess? 


Anja: Auf einem sehr guten Weg, denke ich. Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich mich so gut durch diesen Prozess geboxt habe. Ich finde die Anja, die ich jetzt gerade bin, großartig (huch? Doch, das kann ich mir mal selber sagen, finde ich). Mich hat die Trauer sehr verändert und gleichzeitig sehr auf mich zurückgeworfen. Mein Umfeld hat mir allerdings nicht gespiegelt, dass ich nicht mehr wiederzuerkennen sei. Ich bin wohl mehr „ich“ als ich bisher jemals war. 

Hättest Du damals – so am Anfang - gedacht, dass Du soweit kommen würdest?

Anja: Nie im Leben, Thomas. Ich dachte, ich zerbreche… ich schaffe es nicht durch diesen Schmerz.

Gibt es überhaupt so etwas wie ein „Ziel“ in einem Trauerprozess – was würdest Du sagen? 

Anja: Hm, nein… Irgendwie passt „Ziel“ für mich nicht zum Trauern. Das würde ja bedeuten, dass man irgendwann „fertig“ ist damit. Geht das? Ich denke, dass das nicht geht. Die Lücke, die Andreas hinterlassen hat, die bleibt ja. Egal, wie sich mein Leben weiterentwickelt, wieviel Liebe in mein Leben kommt, wie glücklich ich mich fühlen werde… Und auch die Trauer bleibt ein Teil von mir – nicht als Belastung oder Schwere und als Gefühl, das mich traurig macht. Nein, als Bereicherung oder Erweiterung meines Gefühlsspektrums. Im Trauerprozess kann man aber sicher Teilziele erreichen. Wieder atmen können… Wieder lachen können… Glück spüren… einen Tag lang schmerzfrei sein… Dankbarkeit spüren… Hach, im Trauerprozess erlebt man so viele kleine „tschakka“-Momente, da weiß ich gar nicht, was ich noch alles aufzählen soll und was nicht.

Okay, ich will ehrlich sein, das war eine der Fragen, die ich mit Hintergedanken gestellt habe… eben weil ich im Gespräch mit Trauernden gerne sage, nein, es gibt jetzt erstmal keine Ziele für Sie. Es gibt nur ein Hindurchgehen. Was Du jetzt geantwortet hast, finde ich aber besonders wertvoll – das Wahrnehmen, ach ja, ich atme ja, als eine wichtige, sagen wir mal, Zwischenetappe auf dem Weg… Ich freue mich übrigens für Dich, dass Du an eine offenbar wirklich gute Trauerbegleiterin gekommen bist – wie hast Du sie entdeckt?

Anja: Oh, das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber ich habe das Gefühl, sie wurde mir geschenkt… Ich habe erst nach Andreas‘ Tod überhaupt davon gehört, dass es Trauerbegleitung gibt – vorher wusste ich gar nichts darüber… Hier in Lübeck habe ich ein paar Optionen ausprobiert, aber es gab für mich nicht das passende Gegenstück.
Eine liebe Freundin (so ein kleines herziges Helferlein – sie liest bestimmt mit: Danke, du Liebe!) ist da eingesprungen. Sie kannte Gisela aus anderem Zusammenhang und wusste um ihre Trauerbegleiterausbildung. Mit feinem Gespür hat sie vermutet, dass wir zwei gut zusammenpassen. Tja, wir haben uns dann nach kurzem schriftlichen Austausch persönlich getroffen und siehe da: es passte! Ein Haken daran war höchstens, dass wir räumlich getrennt waren – Gisela lebt in Bremen. Es ist sicher schöner, wenn man sich persönlich austauschen kann… Aber was nicht passt, wird passend gemacht. Wir haben einen tollen Weg miteinander gefunden.

Du machst Dich ja, wie gesagt, dafür stark, dass viel mehr über Themen wie Tod, Trauer und Sterben gesprochen werden soll - ist das Schreiben Deines Blog für Dich eine Art therapeutischer Akt oder ein missionarischer?

Anja: Oh, das ist eine spannende Frage, finde ich. Ich dachte, ich wäre mit meiner Trauerbewältigung so weit fortgeschritten, dass ich relativ entspannt aufschreiben kann, was mir wichtig ist. Mein erster Ansatz war also eher missionarisch, denke ich. Beim Schreiben habe ich aber festgestellt, wie gut mir das Aufschreiben tut. Wie viele kleine Klötzchen sich nochmal neu sortieren und an einen anderen Platz fallen. Wie mir dann doch die Tränen laufen, wenn ich versuche, Erinnerungen zu greifen und in Schrift zu bringen… Toll ist, wenn ich über Tod, Trauer und Sterben schreiben kann und damit dazu beitrage, dass darüber gesprochen wird. Also… ich fände es großartig, wenn mein Blog einfach beides sein darf – Therapie für mich und Hilfestellung und Aufrütteln für andere… Was meinst Du?

Nach allem, was ich bei Dir so gelesen habe, stimme ich dem zu: Es ist beides. Mal Hand aufs Herz: Misst Du bei Deinem Blog auch die Einschaltquoten?

Anja: What?!?! Du nicht???

Okay, das ist fair – provokative Frage erzeugt Gegenfrage. Klar messe ich meine Einschaltquoten. Ich habe Themen gemacht, die laufen nach wie vor wie verrückt, auch weil sie über die sozialen Medien geteilt werden, ich habe auch Themen gemacht, die laufen gar nicht. Aber ich richte mich nur sehr begrenzt danach. Weil mich mein Blog im Moment des Schreibens kreativ erfüllt. Das ist das Allerwichtigste, was er soll… ehrlich… und vielleicht ein bisschen auf mich aufmerksam machen, zugegeben… :-)

Anja: Hahaha… Siehst Du? Ich wünschte, ich hätte das Selbstbewusstsein, dass es mir tatsächlich schnurzpiepegal wäre, ob mein Blog gelesen wird oder nicht. Da bin ich aber noch weit von entfernt ;0) Naja, und würde ich nur so vollkommen für mich schreiben, könnte ich das ja offline tun. Bei Wordpress gibt es ein Tool, das dir die Einschaltquoten anzeigt – das finde ich total spannend. Ich hätte wohl nicht von mir aus irgendwas eingerichtet, aber da das existiert, schaue ich natürlich auch rein. Und über Facebook verkünde ich auch, wenn ich etwas Neues veröffentlicht habe. Es scheint ja doch eine ziemliche Hürde für Leser zu sein, öffentlich Kommentare zu hinterlassen. Ohne Kommentare weiß ich aber gar nicht, ob es irgendwen da draußen interessiert oder gar berührt, was ich da tippe. So erfahre ich zumindest das Interesse mittels einer Zahl und freue mich über jeden einzelnen Aufruf meiner Seite :-) Während des Schreibens jedoch überlege ich nicht, was den Lesern gefallen könnte und was nicht – da bin ich ganz bei mir (ich nehme an, das ist das, was Du als kreative Erfüllung bezeichnest). Da wir eben ja auch über „Mission oder Therapie“ diskutiert haben und wir augenscheinlich beide eine Mission zu erfüllen haben, soll diese ja auch ankommen. Ist also wichtig, dass wir zwischendurch mal schauen, ob wir Leser treffen oder nicht…

Hast Du jemals überlegt, aus Deiner Erfahrung heraus anderen Trauernden zu helfen – wie es ja oft geschieht nach einem eigenen Trauerprozess?



Anjas Blog ist auch bei Facebook vertreten und Anja ist dort ebenfalls aktiv  (Screenshot). 

Anja: Na klar! Ich bin schon mittendrin. Ich habe im Frühjahr eine Ausbildung zur Trauerbegleitung im Ehrenamt abgeschlossen und werde ab September trauernde Erwachsene in einem Elterncafé begleiten. Ich finde es eine unglaubliche Bereicherung, Trauernden zur Seite zu stehen. Einerseits ein wenig aus Dankbarkeit, weil mir so wunderbar geholfen wurde und weil es mir wichtig ist, dass es mehr Hilfsangebote für Trauernde gibt – andererseits glaube ich, dass ich durch meine Erfahrung sehr authentisch begleiten kann.

Das finde ich spannend – Du gehst  in die Begleitung trauernder Eltern? Ein ganz anderes Feld als das, was Dich erreicht hat. Interessant… Eine steile These: Vielleicht wärest Du beim Thema Verlust des Ehepartners noch zu sehr am eigenen Grundwasser für eine aufrechte Begleitung (also, bei mir wäre es das Thema Kindsverlust, bei dem ich auf mich selbst besonders gut aufpassen muss in der Begleitung – gottseidank nicht, weil mir das passiert wäre)?

Anja: Ah, nein, da ist der Begriff „Elterncafé“ in der Tat missverständlich. „Eltern“ kommt daher, dass unser Verein schwerpunktmäßig für Kinder und junge Erwachsene da ist. Die Eltern werden aber auch unterstützt. Ich surfe also tatsächlich mitten durch - wie Du so schön schreibst - mein eigenes Grundwasser und begleite Eltern, die einen Partner verloren haben. Da muss ich Dich mit Deiner steilen These leider auflaufen lassen ;0)
Ich denke, dass mir bei der Begleitung meine emotionale Nähe da eine Hilfe ist. Ich bin den Weg schon ein Stück weiter gegangen und kann hoffentlich mit meinem Licht einen Weg zeigen… In unserem Verein werden auch verwaiste Eltern begleitet – diese Aufgabe möchte ich später einmal sehr gerne übernehmen, fühle mich ihr aber noch nicht gewachsen. Ich habe (glücklicherweise!!!) hier keine Vorerfahrung, habe aber das Gefühl, dass mich da etwas „ruft“ – klingt bissel komisch, aber vielleicht weißt Du, was ich meine? Meinst Du nicht, dass man dort, wo man emotional am stärksten involviert ist auch am… sagen wir …glaubhaftesten begleiten kann? 
Magst Du verraten, was Dich dazu bewegt hat, Trauerbegleiter zu werden?

Ich freue mich über Dein Interesse, aber, nee, so läuft das hier nicht… (lach). Weil ja „Interview“ drübersteht, sind die Spielregeln: Ich stelle die Fragen, Du antwortest. Aber weil ich ganz oft gefragt werde, warum ich eigentlich Trauerbegleiter geworden bin, schreibe ich bald mal einen Blogbeitrag drüber. Einverstanden? Dir ein herzliches Danke für das Sich-Zeit-nehmen und Fragen-beantworten. Und fürs offene Weinen. Ein gutes Zeichen, finde ich!

Anja: Achso… Stimmt ja, sorry. Aber wenn nicht nur ich neugierig bin, ist es eine tolle Idee, wenn Du mal einen Blogbeitrag dazu schreibst – ich bin gespannt. Ich freue mich sehr, dass Du mit diesem Interview auf mich zugekommen bist! Trotz und gerade wegen der Tränen, zu denen Du mich gerührt hast, hat es mir sehr viel Spaß gemacht, Deine Fragen zu beantworten. Herzlichen Dank dafür!

Danke fürs offene und ehrliche Beantworten! 

Anjas Blog "Ein Stück untröstlich" ist hier erreichbar... 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Er hält auch Vorträge zum Thema Trauer und Umgang mit Trauernden. Mehr Infos gibt es hier

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Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was bei modernen Trauerfeiern heute alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Ein Dialog über das "Nachsterben wollen", den Wunsch nach dem eigenen Tod - zwei Trauerbegleiter unterhalten sich

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Und im Kultur-Blog des Autors: Wie man als Autor vom Schreiben leben kann - Tipps für Hobbyautoren von einem echten Profi (und ein Plädoyer fürs Selfpublishing)

Und außerdem im Kultur-Blog des Autors: Warum die "Live-im-Kino"-Ereignisse ein großer Wachstumsmarkt, was die Branche noch Spannendes plant und warum sie medial gesehen zwischen allen Stühlen sitzt - ein Interview rund um Rock'n'Roll & Oper im Kino

Dienstag, 21. Februar 2017

Keine Sorge, alles normal: Was Trauernde oft so tun und warum es Angehörigen und Freunden nicht peinlich sein sollte - ein Plädoyer für ein entspannteres Miteinander (Tipps für den Umgang mit Trauernden)

Osnabrück - Was Trauernde manchmal so tun, ist für Außenstehende oft nur schwer verständlich oder auch nur schwer nachvollziehbar. Ja, es kann sogar sein: Angehörige oder Freunde oder Kollegen schämen sich vielleicht dafür. Sie sind irgendwie unangenehm berührt, wollen das nicht so sehen.. oder schütteln mit dem Kopf. Dabei gilt für vieles, was Menschen in Verlustkrisen so tun: Alles ganz normal! Das Reden mit den Toten. Das Fühlen der Dinge des gestorbenen Menschen. Und noch mehr. Dieser Text ist ein stark bearbeiteter Auszug (bzw. ein mögliches inhaltliches Modul) aus einem Vortrag zum Thema Trauer, den ich gelegentlich halte - gleichzeitig hatte ich den Text exklusiv als Beitrag zur Blogparade "Alle reden über Trauer" vorgesehen, die die Bloggerin Silke von "In lauter Trauer" gestartet hatte (mehr Infos dazu gibt es hier).

Menschen in einer Verlustkrise sind innenraumgreifend von ihrer Trauer ausgefüllt… das ist das alles beherrschende Thema, da gibt oft es nichts anderes – das macht es für Angehörige, Freunde und Bekannte oft so schwer damit umzugehen, weil man das Gefühl hat, auf der Stelle zu treten, das Gefühl, dass sich nichts tut, dass es nicht weitergeht, dass die Menschen irgendwie feststecken – und das macht einen irgendwann dann mürbe oder vielleicht sogar zornig oder man versucht den Kontakt zu vermeiden, bewusst oder unbewusst…. Aber wechseln wir doch einmal die Perspektive. Gucken wir mal darauf, wie es den Trauernden selbst geht. Versuchen wir ein kleines Stück einzutauchen in ihre Welt.

Kerzen anzünden, damit das Licht der Liebsten weiterleuchtet - ein schönes Ritual. Menschen in einer Verlustkrise sind oft innenraumgreifend von Trauer ausgefüllt, da gibt es kaum Platz für anderes.    (Thomas-Achenbach-Foto)


Manchmal ist einfach alles zuviel. Trauernde kennen das: Selbst die simpelsten Alltagstätigkeiten können einen dann überfordern…. Alles, was vorher so ganz nebenbei und ganz unbedacht geschehen ist, wird zur Mammutaufgabe. Die Spülmaschine ausräumen. Die Wäsche waschen. Ein Telefonat fühlen. Manchmal fehlt schon für solche vermeintlichen Kleinigkeiten die Energie. Das ist nicht nur in der Anfangsphase so, das kann auch später immer wieder mal ausbrechen. Stattdessen stehen andere Dinge im Fokus. 


Mit den Toten reden gehört oft dazu - das kann gut tun


Es ist ganz oft so, dass Menschen in einer Verlustkrise mit den Menschen sprechen, die sie verloren haben, dass sie in irgendeinen Kontakt gehen mit ihnen, vielleicht am Grab, vielleicht an einer Stelle in der Wohnung, wo ein Foto aufgestellt ist. Und es tut ihnen gut, so einen Austausch zu suchen. Sogar Männern tut das gut, wie das Buch "Männer trauern anders" erfahrbar macht. Denn wie Männer trauern, das hat der Autor Dr. Martin Kreuels untersucht, und er hat mit trauernden Männern gesprochen und ein Buch geschrieben darüber – und darin finden wir den Bericht eines Mannes, der sich mit seiner toten Frau regelmäßig austauscht über die Themen seines Lebens, sich sogar richtig von ihr beraten lässt in diesen imaginären Dialogen. 


Es geht nicht ums "Loslassen" - denn das hilft gar nix


So etwas tut Trauernden gut und das ist richtig und gut so, weil es ebenfalls dazu beitragen kann, eine neue Bindung zum gestorbenen Menschen zu finden… Und das ist soviel wichtiger als das "Loslassen", denn es geht nicht ums "Loslassen", es geht darum, eine so feste neue Bindung zu den Gestorbenen zu erreichen, dass sie auch diesen letzten schon gegangenen Schritt, also den Tod, aushält. Der englische Schriftsteller Fort Madox Ford bringt das ganz wunderbar auf den Punkt, indem er sagt: „Man heiratet, damit das Gespräch nicht abreißt“ – und daher stellt der englische Autor Julian Barnes die Zusatzfrage: "Warum soll man dem Tod gestatten, das zu unterbrechen?".  Und Barnes - der hier auf diesem Blog noch öfter eine Rolle spielen wird - schreibt außerdem über seine tote Frau: „Also spreche ich ständig mit ihr, das kommt mir ebenso normal vor wie es notwendig ist…“ 


Im Bett des toten Kindes schlafen - warum denn nicht?


Was Trauernden ebenfalls gut tut, ist es, ihre Sinne anzuregen. Fühlen, Riechen, Schmecken, dadurch eine Nähe zum gestorbenen Menschen spüren. Ein Beispiel: Wir haben in unserer Trauerbegleiterausbildung die Geschichte eines Ehepaares gehört, das ihr Kind verloren hatte. Und nach dem Tod hatte einer der beiden Partner, sagen wir, die Frau, damit begonnen, nachts im Bett des gestorbenen Kindes zu schlafen. Weil sie sich dort ihrem Kind nahe gefühlt hat, weil es ihr einfach gut getan hat. Der Mann hatte das nicht verstanden, er fand das furchtbar, er hat geschimpft. Bis er sich eines Nachts selbst ins Bett des gestorbenen Kindes gelegt hatte. Und von da an wechselten sich die beiden immer ab. Warum auch nicht?


Ein, zwei oder mehr Kleidungsstücke werden ein Stofftier: Jennifer Arndt-Lind und Hendrik Lind zeigen ihre „Mapapus, individuell gefertigte Puppen als Seelentröster. (Thomas-Achenbach-Foto)

Auch die so genannten Mapapus ("Mama-Papa-Puppen") funktionieren deswegen so gut, weil sie so geschickt die Ebene der Sinne bedienen - hierbei handelt es sich um Puppen, die aus Kleidung genäht werden, also aus getragener Kleidung, die oft noch sehr lange nach den Menschen riecht, die sie getragen haben. Ursprünglich für Kinder gedacht, deren Eltern sich trennen - daher der Name -, sind die Stofftiere auch im Trauerfall gefragt. Auf der Messe "Leben und Tod" habe ich die Mapapus und ihre Macher kennenlernen dürfen und mir das Angebot angucken dürfen - über einen Mangel an Arbeit können sich die beiden offenbar nicht beklagen, wie sie sagen, das Geschäft läuft. Klar: Wer die Sinne ansprechen kann, kommt Menschen in einer Verlustkrise entgegen. Dann das Reden. 


Immer wieder das Gleiche - Warum das Reden so wichtig ist


Auch das muss sein. Das immer-wieder-wieder-wieder-darüber-Reden. Vor allem das geht Angehörigen und Freunden schnell auf die Nerven. Warum denn immer das Gleiche reden? Warum sich immer und immer wieder das Gleiche anhören müssen? Hier ist wichtig zu wissen, dass dieses scheinbar immergleiche Aufarbeiten des Todesfalls und all seiner Folgen für Menschen in einer Verlustkrise eine ganz wichtige Funktion erfüllt. Denn es geht in Wahrheit um das Begreifen. Es geht darum, sich einem Verstehen dessen, was geschehen ist, Stück für Stück anzunähern. Wer kann schon verstehen, was der Tod ist? Das Thema ist viel zu groß, vor allem für Menschen in einer Krise. Aber immer wieder darüber reden, immer wieder die Situationen erzählen, das kann so etwas wie ein Begreifen möglich machen. Ganz langsam und Schritt für Schritt. 


Nachsterben wollen: "Die Frage des Selbstmords stellt sich früh..." 


Auch das "Nachsterben wollen" gehört dazu. Ich zitiere Julian Barnes, der in seinem bemerkenswerten Buch „Lebensstufen“, übrigens ein ganz ganz großartiges Buch über den Tod seiner Frau schreibt: „Die Frage des Selbstmords stellt sich früh und vollkommen logisch...“ – Er spricht hier von Selbstmord, deswegen lasse ich den Begriff so stehen. Auch wenn ich von den "Angehörigen um Suizid" lernen durfte, dass das ein schlechter Begriff ist – weil Mord nun einmal Mord ist und damit etwas Kriminelles. Aber ein Suizid ist das nicht.


Sofort-Hilfe bei Suizidgedanken - unbedingt ernst nehmen!


Klar, wenn jemand plötzlich von seinem eigenen Tod spricht, von einer Sehnsucht danach, gehen bei Angehörigen, Freunden oder Kollegen alle Alarmlampen an! Und das mit Recht! Jedoch ist die dann oft gewählte Reaktion, das schnelle Wegreden oder Wegschieben des Themas, leider die falsche. Was stattdessen geschehen sollte, ist das Reden. Ernst nehmen. Gucken, wie ernst es ist (ACHTUNG! Was bei akuten Suizidgedanken helfen kann, folgt im nächsten Absatz).


Dranbleiben, nicht weglaufen, hingucken, reden lassen


Beim Thema Suizid gelten seit meiner Ausbildung für mich zwei Dinge: Erstens: Ich habe weniger Angst vor dem Thema und davor mit den  Menschen darüber zu sprechen, gemeinsam auszuloten, wie ernst das ist (manchmal ist es für Menschen schon entlastend genug, das Thema auszusprechen oder ansprechen zu können). Zweitens: Wenn zu bemerken ist, dass sich die Gedankenschleifen tatsächlich auf dieses Thema festgebissen haben, wenn es das vorherrschende Thema ist, dann ist sofort Hilfe gefragt oder die Angehörigen sind gefragt, diese Hilfe umzusetzen oder anzuregen – die Telefonseelsorge anrufen, in ein psychologisches Klinikum fahren, sich vielleicht selbst dort zum stationären Aufenthalt melden, sofort einen Arzt konsultieren oder auch Feuerwehr oder Polizei anzurufen. Hauptsache handeln. Das gilt vor allem für alle, die sich mit akuten Suizidgedanken plagen: Bitte handeln! Jetzt! (Kostenlose Telefonseelsorge: 0800/1110111 - Mailberatung über Internetseite: www.telefonseelsorge.de)


All die Dinge in den Schränken - sie haben noch eine Funktion


Nichts wegwerfen können…. Oft ein Streitpunkt unter Angehörigen. Da liegen auf einmal Dinge in den Schränken, die keine Funktion mehr erfüllen. Wochen, Monate, oft auch Jahre liegen diese Dinge da und nehmen ihren Platz ein. Klar, dass die naheliegende Reaktion für alle Menschen ohne emotionale Krisenfaktor lautet: Die können jetzt bald mal weg. Aber es wird dabei oft übersehen oder falsch aufgefasst, wie schmerzvoll das Wegwerfen von Dingen für Trauernde oft ist. Vor allem Kosmetik und Kleidung, was ja oft beides als "zweite Haut" bezeichnet wird - für Menschen in einer Verlustkrise ist es vom Gefühl her genauso, als würden sie den geliebten, gestorbenen Menschen ein zweites Mal wegschmeißen. Und wer kann das schon? Was es braucht, ist auch hier: Eine neue Bindung an den gestorbenen Menschen zu finden. Eine, die nicht (mehr) über Gegenstände funktioniert. 


Wenn die Schuld einen plagt - und wo es Hilfe gibt


Ein weiteres wichtiges Thema, aber eines, das hier jetzt den Rahmen sprengen würde, sind Schuldgefühle. Manche Trauernde plagen sich damit - für Außenstehende oft besonders schwer nachvollziehbar. Aber das ist eigenes Thema wert und soll noch an anderer Stelle in diesem Blog behandelt werden. Bleibt am Ende noch eine kleine Bemerkung – soviel Eigenwerbung muss erlaubt sein: Wenn Sie als Angehörige oder Freunde nicht mehr können oder das Gefühl haben, dass es ihnen zuviel wird, dann sind wir ja da – ausgebildete Trauerbegleiter, es gibt mehrere, auch in ihrer Nähe, es reicht manchmal schon ein einziges Gespräch, vielleicht eine einzelne Trauerberatung. Es reicht manchmal das Gefühl, dass man einen Ort hat, wo man hingehen könnte…

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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