Dienstag, 24. Oktober 2017

Bitte nehmt immer auch die Kinder mit - ans Sterbebett, ins Krankenhaus, ins Hospiz... überall dorthin, wo sie sehen und begreifen können - was wir aus dem Roman "Sieben Minuten nach Mitternacht" Wichtiges fürs Leben und Sterben lernen können

Osnabrück (eb) - Keine Sorge: Zum Lesen dieses Blogbeitrags sind keine fundierten Kenntnisse des Buches "Sieben Minuten nach Mitternacht"nötig. Eigentlich reicht für unseren Kontext diese kurze Zusammenfassung: In dem Roman geht es um den 13-jährigen Jungen Conor, dessen Mutter unheilbar an Krebs erkrankt ist und ins Krankenhaus muss. Der Vater hat die Familie schon vor längerer Zeit verlassen, Conor schmeißt erst alleine den Haushalt und lebt später bei der Großmutter. Die ihn aber meist zuhause lässt und ihre Zeit im Krankenhaus verbringt. Denn keiner - weder Vater, noch Großmutter, noch die Mutter selbst - traut sich, dem Jungen die Wahrheit zu sagen: Dass die Mutter sicher sterben wird. Bald sogar. Wie sich alles um diesen Kardinalfehler windet und welche psychologischen Folgen das haben kann, stellt das Buch als berührende Monstergeschichte heraus - und daraus lässt sich eine Menge lernen. Kurz gesagt: Keine falsch verstandene Schonung. Nehmt die Kinder mit.

"Nicht dabei sein, macht die Sache nicht besser". In diesen simplen Worten fasst die Familientrauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper zusammen, worum es geht. Sie erzählt auf ihrer Facebookseite die bewegende Geschichte - eine echte Geschichte, anders als die von Conor - vom fünfjährigen Konrad, der mit dem ganz plötzlichen Herzinfarkt und nahenden Tod seiner Mutter konfrontiert ist. Und wie er dann mit seinem Papa in das Krankenzimmer geht und sich von der Krankenschwester genau alle Schläuche erklären lässt. Aber darf man Kindern sowas zumuten? Ist das nicht grausam?


(Foto: Thomas Achenbach)

Nun ja, was wäre denn die Alternative? Dass die Kinder zuhause sitzen und nicht miterleben können, was los ist? Und dann stehen sie plötzlich vor so einem Holzding und verstehen die Welt nicht mehr...? Klar, keiner versteht die Welt, wenn es um den Tod geht. Aber was für die Erwachsenen gilt, ist für die Kinder genauso wichtig. Vielleicht noch wichtiger:


Wir Menschen müssen begreifen lernen - auch die Kleinen


Wenn wir begreifen wollen, müssen wir erleben können. Den toten Körper zu sehen und anzufassen, das können sich viele kaum vorstellen (ging mir genauso und ich habe es auch nicht getan - aber immerhin war ich dabei, mit im Raum, als meine Mutter starb). Dabei sein zu dürfen, wenn der Tod eintritt, das kann manchmal auch ein Geschenk sein, es kommt immer auf die jeweilige Situation drauf an. Und manche Eltern, die ihren Kinder sowas zugemutet haben, berichten von ganz überraschenden und erstaunlich guten Erfahrungen, die sie damit gemacht haben. Wobei mir ganz, ganz wichtig ist, dass wir die Kinder nicht einfach dorthin zwingen, ans Sterbebett oder zu der gestorbenen Person - sondern sie selbst fragen, ob sie sich das vorstellen könnten und ob sie dorthin möchten. Das kann hilfreich sein für sie, wenn die Faktoren stimmen. 

Inzwischen ist "Sieben Minuten nach Mitternacht" auch verfilmt worden - eigentlich total unnötig, denn das Buch alleine weckt starke innere Bilder in einem. Aus Zeitgründen habe ich mir den Roman im Hörbuchformat vorlesen lassen. Das war eine wertvolle Erfahrung.    (Thomas-Achenbach-Foto)


Hilfreicher jedenfalls als irgendwo anders sitzen zu müssen und nicht genau zu wissen, was jetzt da eigentlich vorgeht, wo die Erwachsenen immer so ernst und mit so düsteren Mienen immer hingehen. Siehe da, wer seine Kinder mitgenommen hat, der berichtet später oft: Sie konnten ganz gut damit umgehen. Die Kinder haben ihre eigenen Schutzmechanismen. Natürlich wird so eine Situation für sie ihre eigenen Überforderungen mit sich bringen. Natürlich wird es nicht leicht, für keinen, der dabei ist. Aber: "Nicht dabei sein, macht die Sache nicht besser".


Man möchte die Eltern anbrüllen: Sagt es ihm, verdammt!


Auch Conor in der Geschichte entwickelt seine Schutzmechanismen. Sehr realistisch schildert das Buch, wie der Junge in der Schule plötzlich gemieden wird. Als ob der Krebs seiner Mutter etwas Ansteckendes oder Anrüchiges hätte - oder als ob er selbst plötzlich unsichbar wäre. Diese gigantischen Unsicherheiten, die mit dem Tod einhergehen - sie wirken auch im echten Leben oft leider so. Doch wie sich am Ende zeigen wird: Ganz tief im hintersten Winkel seines Herzens hat Conor gewusst, was geschehen wird. Bis dahin ist viel geschehen, es hat Wut und Zerstörung gegeben und sonst vieles, was Trauer mit sich bringt. Aber so richtig gesagt, was Sache ist, hat es ihm bis kurz vor Schluss eigentlich keiner. Der Junge hat viel alleine zuhause gesessen und sich ein ebenso beängstigendes wie freundliches Monster als seine persönliche Hilfe geholt - das vielleicht sogar echt ist, an dieser Stelle lässt das Buch in wohltuendem Mystizismus alles offen. Aber der Leser hat bis dahin längst in vielen Passagen innerlich aufgestöhnt...


Kinder können mehr aushalten und verstehen, als manche denken - sie in eine falsch verstandene Schonungszone zu stecken, ist oft schlimmer als sie mitzunehmen und der Wahrheit auszusetzen.   (Pixabay.de-Foto/Creative-Common-0-Lizenz)

Denn er hat schon oft die erwachsenen Figuren vor seinem geistigen Auge förmlich angeschrien: Jetzt sagt es ihm! Sagt es ihm! Nehmt ihn mit, verdammt nochmal! Lasst ihn dabei sein! Denn: Nicht dabei sein, macht es nicht besser.... Wie gut ist es da zu wissen, dass Fachfrauen wie Mechthild Schröter-Rupieper in der echten Welt solche Botschaften mitverbreiten. Danke dafür... 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

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