Freitag, 14. Dezember 2018

Ein Zeitungsartikel deutet es an: Ist aus der geplanten "Trauerstörung" jetzt eine "Trauerreaktion" geworden? - Neue Entwicklungen rund um die Frage "Trauer als Krankheit" - ab 2022 von der WHO geplant ("ICD 11")

Osnabrück - Das lässt einen aufhorchen. Auch die in Österreich erscheinende Tageszeitung "Der Standard" berichtete unlängst im November 2018 über jene Frage, die die Menschen aus Hospiz-, Palliativ- und Trauerbegleiterkreisen in jüngster Vergangenheit sehr bewegt hat: Wird Trauer bald als eigene Krankheit anerkannt sein? Oder wird sie gar als eine "Störung" klassifiziert sein? Denn die WHO - also die Weltgesundheitsorganisation - will auch Trauer in den Kanon der psychischen Störungen aufnehmen. Interessanterweise benutzt der Redakteur Christian Wolf in seinem Artikel eine andere Begrifflichkeit als die in jüngster Zeit so umstrittene und heftig diskutierte: Anstatt von einer "Anhaltenden Trauerstörung" zu sprechen, wie es anfangs geplant war, benutzt er nun den Begriff "Anhaltende Trauerreaktion" - das wirft Fragen auf. Sollte die Weltgesundheitsorganisation in der Zwischenzeit umgeschwenkt sein und auf ihre Kritiker gehört haben? Hintergrund ist eine teils recht heftig geführte Debatte rund um die Frage, ob Trauer als eigene Klassifikation bald auf den Krankschreibungen der Ärzte stehen kann - was bislang noch nicht möglich ist. 

Ändern soll dies die so genannte "ICD 11", also die "International Statistical Classification Of Disease and Related Heath Problems". Das ist das derzeit in Überarbeitung befindliche Regelwerk für alle Codierungen bzw. Diagnoseschlüssel, mit denen alle niedergelassenen Haus- und sonstigen Ärzte arbeiten. Dort gibt es für so ziemlich alles einen Schlüssel bzw. einen Code - für Grippe beispielsweise J09-J18. Nur für Trauer gibt es noch nichts, was sich aber bald ändern soll. Wie die Wochenzeitung "Die Zeit" in ihrer Ausgabe vom 21. Juni 2018 berichtete, steht jetzt zumindest der zeitliche Fahrplan für die Einführung der ICD 11 fest: Demzufolge wurde eine erste Arbeitsversion der neuen ICD inzwischen vorgestellt, verabschiedet werden soll das Ganze im Mai 2019 auf der Versammlung der Weltgesundheitsorganisation und gültig in Kraft treten am 1. Januar 2022. Aber eines scheint sich nun geändert zu haben: Die Begrifflichkeit. 

Krankgeschrieben wegen Trauer - ab 2018 soll das laut der ICD 11 möglich sein. Aktuell ist der Plan jedoch umstritten.   (Achenbach-Foto)

Das mag anmuten wie ein Detail, aber es ist eine der zentralen Fragen in dieser Diskussion. Muss diese neue Diagnosemöglichkeit unbedingt "Anhaltende Trauerstörung" heißen? Alleine schon an diesem anfangs geplanten Begriff hatte sich allerlei Kritik entzündet: "Trauer sollte keine Störung sein", so hatte es beispielsweise der Trauerbegleiter Norbert Mucksch formuliert, der u.a . im Vorstand des Bundesverbands Trauerbegleitung arbeitet (Transparenzhinweis: ich bin dort auch Mitglied - im Verband, nicht im Vorstand). Das soll heißen: Wenn der Eindruck vermittelt wird, dass Trauer stört, geht das in eine falsche, weil eine gesunde Weiterentwicklung verhindernde Richtung. Denn damit wird vermittelt, dass Trauer unterdrückt werden sollte, weggedrückt werden sollte. Das genau aber ist es nach Überzeugung von Trauerbegleitern - auch nach meiner -, was die Verzögerung im Prozess erst auslöst. Trauer sollte stattdessen fließen können, sollte erlebt, gefühlt und ausgedrückt werden können. Das hilft. 

Bislang ist es nämlich technisch gesehen nicht möglich, sich alleine wegen Trauer von Fachleuten weiter behandeln zu lassen. Jedoch ist unbestritten - auch bei den meisten Kritikern -, dass es Menschen gibt, die sich wegen Trauer krankschreiben und von Fachleuten behandeln lassen. Meistens geschieht das dann unter der Codierung einer "Anpassungsstörung", die aber ein Sammelbegriff für sehr, sehr vieles sein kann. Und hier beginnt die Debatte. Nichts verändert zu haben scheint sich indes bei einem weiteren der großen Kritikpunkte: Dem Zeitraum. 

Denn die „Anhaltende Trauerreaktion“ soll nach den Plänen der WHO als Grund für die Überweisung zu Fach­leuten oder in eine Therapie möglich sein, wenn ein Mensch länger als sechs Monate unter den durch Trauer verursachten Symptomen leidet. Denn erst nach Ablauf eines solchen Zeitraums ließe sich feststellen, ob die Symptome nicht von selbst besser würden. Dass mit Trauer immer erst eine heftige Leidenszeit einhergeht, ist unbestritten. Die Frage, an der sich jetzt die Diskussion entzündet, ist: Ab wann hat sich Trauer so verdichtet und verkompliziert, dass eine Fachbehandlung nötig ist? Erfahrene Trauerbegleiter sagen dazu: Nach sechs Monaten ist das meist noch nicht der Fall. Ob sich Trauer tatsächlich verkompliziert, ließe sich erst nach wenigstens einem Jahr sagen. Denn es sei ganz gesund und ganz natürlich, dass Trauer erstmal heftige Symptome auslöse. Ob sich auch in dieser Frage bis 2020 noch etwas tut? Wir werden es sehen. So oder so wird es spannend sein an diesem Thema dranzubleiben. Sobald ich etwas erfahren sollte, gibt es einen neuen Sachstand auch auf diesem Blog.

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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