Sonntag, 3. Mai 2020

Quo Vadis Trauerbegleitung in Zeiten des Coronavirus...? Warum Trauerbegleitung aktuell nicht dort stattfindet, wo sie besonders dringend gebraucht würde und was sich alles ändern müsste, damit das geschieht - Gedanken zur Zukunft der Trauerbegleitung (und zu meiner) - und wie die Politik uns junge Familien eiskalt im Stich gelassen hat

Osnabrück - "Können wir uns so einen Luxus wie einen guten Umgang mit Trauer - und so etwas wie Trauerbegleitung - als Gesellschaft nicht auch deswegen erlauben, weil es uns gerade so gut geht und weil wir gerade eben nicht von traumatischen Großereignissen wie Weltkriegen betroffen sind?" Es ist jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, keine zwei Monate her, dass mir - sinngemäß - diese ebenso wichtige wie kluge Frage am Rande meines Vortrags über Männer und Trauer auf der Wiener Messe "Seelenfrieden" gestellt worden ist (und es war übrigens Claudia Fricke vom frisch gegründeten Trauerportal bohana.de, die sie mir gestellt hatte). Das war Anfang März 2020 und das Coronavirus klopfte da bereits zaghaft an die Tür. Aus zaghaft wurde brutal, aus dem Klopfen ein Einmarsch, alles wurde und ist weiterhin geschlossen und die ganze Welt war plötzlich auf den Kopf gestellt. Jetzt ist alles anders - und langsam drängt sich die Frage auf: Wie verändert die Coronakrise unseren Umgang mit Trauer? Und wie verändert die Krise die Trauerbegleitung in Deutschland? Welche Schwachstellen macht sie sichtbar, was muss geschehen?

Was die Trauerbegleitung in Deutschland angeht - und allgemein den Umgang mit den Themen Tod, Trauer und Sterben -, hatten wir es mit einer wertvollen, gut gepflegten und mit zahlreichen hervorragenden Angeboten gefüllten Landschaft zu tun. Bis das Coronavirus kam und auch hinsichtlich der Trauerbegleitung alles auf den Kopf stellte. Und jetzt? Temporär geschlossene Einrichtungen wie beispielsweise das Trauerland in Belm. Kurzarbeit bei manchen Hospizdiensten. Wegbrechende Spenden. Auf ein neues Treffen wartende Trauergruppen. Und viele Unklarheiten bei der Frage, wie es weitergehen könnte. Und wann. Und ob.



Auch aus Trümmern lässt sich etwas Neues bauen -  heißt es. Doch was genau liegt eigentlich in Trümmern? Und was bauen wir jetzt daraus? (Fotos: Thomas Achenbach)


Das wäre ja alles noch zu verkraften, wenn nicht vielerorts rundherum das Leiden der Menschen wüchse. Verluste allerorten. Alleine schon der Verlust von Autonomie und Freiheit durch Quarantänen und Ausgangssperren, aber natürlich auch der von Menschen. Der Verlust der alten Welt und ihrer Normalität. Der Verlust von sozialen Kontakten und der Interaktion von Mensch zu Mensch. Der Verlust von Sicherheiten, weil Kurzarbeit, Entlassungen und finanzielle Einbußen drohen. Ohnmacht und Eingesperrtsein. Hoffnungslosigkeit und existenzielle Fragen. Vermutlich mehr Suizide als vorher. Wo wir auch hinsehen: Wir treffen auf Fragen und Themen, die im Kontext von Trauerbegleitung oft schon zur Sprache gekommen sind. Nicht, dass wir "uns damit auskennen", nicht dass wir "die Antworten darauf" hätten. Aber wir hätten eine Idee davon, wie sich darüber reden ließe. Was in Gesprächen hilfreich sein könnte. Jedenfalls haben wir etwas Vergleichbares schon mal getan. Und trotzdem sind viele, wenn auch nicht alle, Begleitungen derzeit erstmal gestoppt, finden Gruppentreffen nicht statt, ist manches von den Angeboten, die es einmal gab, auf Pause. In Erwartung eines Neustarts, falls es sowas mal geben sollte. 


Was macht die Krise mit den Begleitern?


Parallel stellt sich die Frage: Was macht diese Krise eigentlich mit uns als Menschen, die wir Begleitung anbieten wollen? Welche Spuren hinterlässt sie auf unseren Seelen? Die Wichtigkeit dieser Frage darf nicht unterschätzt werden: Nur wer selbst standfest genug ist, kann anderen soviel Stand anbieten, dass sie sich anlehnen können. Wer selbst ins Wanken gerät, der sollte sich zuerst einmal selbst stabilisieren, das ist die wichtigste Grundlehre, die in der Qualifizierung zum Trauerbegleiter, Notfallseelsorger oder Sterbebegleiter immer wieder betont wird. Und doch gibt es einige wenige Wackere, die jetzt in diesen Zeiten als Trauerbegleiter aktiv sind (und es sein können). Sie suchen sich bewundernswerte Wege, um gute Alternativen zu finden. Sie bieten Telefonkontakte, digitale Kanäle, Chatrooms, Videokonferenzen, sie zeigen ein bemerkenswertes Engagement und viel Erfindungsreichtum in schwierigen Zeiten. Dafür verdienen sie Respekt und Anerkennung.  


Keine Ressourcen mehr - über Nacht alleine gelassen


Andere, so wie ich, würden jetzt gerne weiterhin helfen, aber können einfach nicht mehr. Als junge Familie mit zwei berufstätigen Eltern und einem mit viel zuviel Energie ausgestatteten Kindergartenkind gehören wir zu den Verlierern dieser Krise. Die Erwachsenen ins Home Office einkaserniert, das nicht mehr kita-betreute Kind seit zwei Monaten zuhause, jeden Tag unausgelasteter, eine Big-Brother-Versuchsanordnung ungewissen Ausgangs - mit kritischer Energiemasse. Anstrengend von der ersten Sekunde an. Jahrzehntelang war die Vereinbarkeit von Familie und Beruf DAS wichtigste Schlagwort sozialer Politik. Es war das Versprechen, auf dem wir unser Leben aufgebaut haben. Dann wurde es von einer Nacht auf die andere lapidar vom Tisch gewischt. Kitas zu und Basta. Einen Monat, zwei Monate. Und dann noch länger. Eltern, seht zu, wo ihr bleibt. Das ist eine der bittersten Lehren aus dieser Coronakrise: Dass die Politik uns Familien nicht bloß eiskalt im Regen stehenlässt, wenn es einmal wirklich drauf ankäme, sondern sich dazu noch über uns lustig macht ("Micky-Maus-Politik", "Pipi-Kacka-Fragen", die Links finden sich am Ende des Artikels). Es wird wirklich allerhöchste Zeit, unsere Parlamente massiv zu verjüngen, und die Leopoldina aus Halle gleich mit dazu - viel zu viele alte weiße Säcke Männer und ebenso kinder- wie in Familienfragen ahnungslose Führungsfrauen. Bemerkenswert, dass gerade jetzt unsere Ex-Familienministerin Kristina Schröder mit klugen und kritischen Beobachtungen aus der Versenkung emportaucht.




Kurz vor dem Coronavirus hatte ich gerade mein ganzes Leben neu sortiert und alles darin in eine gute Balance gebracht: Einen Hauptberuf zum Geldverdienen in Teilzeit, ansonsten Freiräume für Trauerbegleiter-Tätigkeiten, mit denen sich nun einmal kaum Geld verdienen lässt, dazu Vorträge und Workshops als Nebenjob, um die Kasse aufzufüllen und den Buchverkauf anzukurbeln, plus Zeit für Kinderbetreuung, alles im Einklang. Vorbei. 


Und in der Nachtschicht einen Podcast einsprechen


Jetzt entzieht die seit fast acht Wochen weder ausgelastete noch ausgetobte Sechsjährige - die von morgens 5.30 Uhr bis abends 20.30 Uhr wie ein Wirbelwind durchs Haus fegt - mir vieles von den Kraftressourcen, die grad noch so da sind. Der Rest geht drauf für Kochen, Einkaufen, Home Office und so. Nebenher noch zwei Sonderpodcasts für die "Leben und Tod" einsprechen, das ist dann ein Programm für die heimische Nachtschicht.


Menschen ab 60: Vulnerabel / Menschen ab 40: Einkommensgefährdet


Ich bin sicher nicht der einzige, der wegen der Coronakrise sein Ehrenamt vorübergehend auf Eis gelegt hat. Aber ich frage mich, ob es wohl beim Vorübergehend bleiben kann? Denn aktuell könnte ich keine Prognose darüber abgeben, wie mein Alltag und mein Leben in wenigen Monaten aussehen werden. Ob mich die wirtschaftliche Gesamtentwicklung nicht doch noch dazu zwingt, im nächtlichen 450-Euro-Nebenjob Toilettenpapier in Supermarktregale zu sortieren. Wir werden sehen. Dabei gehöre ich mit meinen knapp 45 Jahren noch zu den Jüngeren im Segment der Trauer- und Sterbebegleitung in Deutschland. Ich habe in den vergangenen zwei Jahren eine ganze Reihe an Workshops im Kontext von Hospiz- und Palliativ- und Trauerinitiativen gegeben und würde die vorsichtige These wagen: Das Durchschnittsalter bei diesen Kursen lag bei 55 Jahren. Mit einer klaren Tendenz zum eher älteren Publikum. Da hat man es dann ganz klar vor Augen, dass Sterbe- und Trauerbegleitung tatsächlich Luxus in unserer Gesellschaft waren (bzw. sind?). Meistens handelt es sich dabei um ein Ehrenamt. Das muss man sich erstmal leisten können. Finanziell. Und zeitlich. Und von den Kraftressourcen her. Dann kommt noch hinzu, dass Menschen ab 60 Jahren als besonders vulnerabel gelten, was das Coronavirus angeht. Derweil ich diese Zeilen schreibe, ist der direkte Kontakte von Mensch zu Mensch sowieso noch nicht wieder erlaubt. Womit wir bei der nächsten Frage sind:





Wie lässt sich die Transformation zur digitalen Trauerbegleitung gestalten? Die meiner Meinung nach jetzt dringend nötig ist und hier und da ja auch bereits geschieht, in Form von Videochat-Trauergruppen beispielsweise. Ich finde das einerseits großartig und andererseits ein bisschen vorschnell. Denn was mir persönlich noch fehlt, sind neben Kenntnis- und Erfahrungswerten auch die nötigen W-Lan-Upload-Kapazitäten. Aber die größten Fragezeichen habe ich beim Thema Datenschutz. Zum Beispiel bei Facetime oder WhatsApp-Video: Natürlich stimmen wir auch einer durch Fremde erfolgenden Auswertung all unserer Videochats zu, wenn wir aktiv unser "Ja" bei den AGBs dieser Portale anklicken. Darum geht es doch nur bei diesen Portalen: Um Daten. Und wenn schon bei Alexa aktiv von Fremden zugehört wird, um das Gehörte auszuwerten, wie sich immer wieder gezeigt hat, dann wird auch bei Videoportalen aktiv zugeguckt. Logisch. Aber wie verträglich ist das mit einer Trauerbegleitung, bei der es ans ganz Persönliche geht? Einfach einen Videochat auf wackliger Datenbasis zu organisieren, wäre mir selbst aktuell noch zu heikel. Ich bräuchte mehr Expertise. Aber woher nehmen?


Trauerbegleitung mit Gesichtsmasken auf?


Was wären die Alternativen? Eine Trauerbegleitung mit Gesichtsmaske anbieten, geht das überhaupt? Wollen wir das? Braucht es nicht gerade die Mimik, wenn es um unsere tiefsten Gefühle und Zustände geht? Reichen einem die Augen für so ein Gespräch? Was würde ein Carl Rogers mit seiner Spiegel-Gesprächs-Technik dazu sagen (mehr Infos dazu siehe hier)? Nein, dann doch besser Trauerbegleitung in Form eines Telefonats, da ist dann wenigstens die Maske ab und das Gesagte lässt sich auch gut verstehen. Auch das könnte eine der Lehren sein, die wir langfristig aus dieser Krise ziehen: In der Qualifizierung zum Trauerbegleiter müsste das Gespräch aus der Ferne eine zusätzliche Rolle spielen zum Vier-Augen-Gespräch. 





Es gibt vieles, das mich im Zusammenhang mit der Coronakrise und der Zukunft der Trauerbegleitung in Deutschland beschäftigt. Hier ein paar Gedanken, Thesen und Ideen dazu - mehr so als lose Sammlung, gedacht als Anregung zum Diskutieren, Träumen, Mitdenken und Mitgestalten. Als erster Impuls für neue Visionen. Auch dafür können Krisen geeignet sein: Neue Visionen zu entwickeln.

1.) Die Trauerbegleitung müsste dort andocken, wo sie gerade jetzt, in der Krise, am dringendsten gebraucht würde (oder besser gesagt: wo sie zusätzlich gebraucht würde, denn natürlich wird jede Begleitung dringend gebraucht). Was mir großen Kummer macht, sind die radikalen Veränderung im Kontext des Sterbens. Wenn heute immer mehr Menschen durch das Coronavirus dazu gezwungen sind, ganz einsam und ohne jeden erlaubten Kontakt zu ihren Angehörigen, Sterbebegleitern oder zu irgendeinem anderen Menschen sterben zu müssen, ohne eine Hand, die hält, dann ist das eine Katastrophe und eine radikale Abkehr von all den Fortschritten, die Hospiz- und Palliativkultur in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben. Und auch für die Angehörigen ist das brutal – nicht da sein zu können, obwohl es ginge. Hier müssten wir als Trauerbegleiter jetzt sofort reagieren können. Wir müssten die Angehörigenbegleitung der von Corona betroffenen Familien als Akuthilfe anbieten und organisieren können. Wir müssten uns an all die Sportvereine und Nachbarschaftshilfen andocken, die jetzt akute Notfallhilfen organisieren und auf die Beine stellen. Wir müssten unseren Tätigkeits- und Ankopplungs-Horizont über den Kontext von Hospiz- und Palliativkultur hinaus erweitern, weil die gesellschaftlich größeren Notfälle, bei denen wir gebraucht werden könnten, im Augenblick an anderen Orten ausbrechen. Wir müssten für all diejenigen Menschen zur Verfügung stehen, die ihre sterbenden Angehörigen gerade nicht besuchen und sehen dürfen. Wir müssten viel schneller und flexibler reagieren auf das, was jetzt gesellschaftlich gebraucht wird. Wir müssten, müssten, müssten... Ich habe da gut reden. Ich tue es ja selbst nicht. Und warum nicht? Wegen der altbekannten Gründe: Mich zwingt die Coronakrise in ein mich zunehmend erschöpfendes Alltags-Home-Office-Kinder-Orga-Korsett - und es gibt kein Geld für Trauerbegleitung. Dazu später mehr. 

2.) Trauerbegleitung sollte in viel größere Netzwerke eingebunden sein als bisher, oder anders gesagt: Die Angebote von Trauerbegleitung müssten noch viel sichtbarer und vor allem allgemein bekannter werden. Die Seelsorger in den Krankenhäusern, die Ärzte und Pflegekräfte auf den Stationen, die Pflegekräfte in Alten- und Pflegeheimen, aber auch die Kräfte in Notfallseelsorge und Rettungsdiensten, sie alle (und mehr) müssten von den Angeboten der Trauerbegleitung wissen, um sie weiterempfehlen oder um vermitteln zu können. Oder zusammengefasst: Eben alle, die zwar in einem direkten Kontakt mit Patienten und deren Angehörigen stehen, aber diesen Kontakt zwangsläufig verlieren (müssen), sobald sich die Situation verändert. Viele der Menschen, die Trauerbegleitung anbieten, sind zumindest mit den Bestattern aus ihrer Region recht gut vernetzt, manche auch darüber hinaus. Den meisten der Menschen, die Trauerbegleitung anbieten, fehlt berechtigterweise die Zeit und die Muße dafür, sich aktiv um eine solche weit ausholende Netzwerkpflege zu kümmern. Was wiederum mit der kritischen Frage zusammenhängt, wie diese Angebote finanziert werden und an welche Einrichtungen sie angedockt sind und sein sollten.

3.) Die Digitalisierung sollte die Sterbe- und Trauerbegleitung durchdringen. Jetzt. Und zwar im Bereich der Fortbildungen und Qualifizierungen. Wir brauchen eine fundierte Ausbildung im Segment des Digitalen. Wir müssen die Kenntnislücken stopfen, die es überall noch gibt. Das gilt auch für meine eigenen Kenntnislücken. Wie biete ich eine Trauergruppe per Chatroom an? Welche Software ist dafür geeignet? Wie richte ich Videokonferenzen ein? Welche Software ist dafür datensicher genug, welche nicht, zumal für Teilnehmer, die viel Persönliches von sich preisgeben? Was gibt es hinsichtlich des Personen- und Datenschutzes zu berücksichtigen? Welche juristischen und datenschutztechnischen Fallstricke muss ich beachten? Wie kann ich meine Angebote auch online sichtbar machen und digital darauf hinweisen? Wie kann ich als Trauerbegleiter effiziente SEO-Hinweise im Internet platzieren? All solche und weitere Fragen müssten sowohl Bestandteil der kommenden Grundqualifizierungen werden als auch Inhalte der Fortbildungen für Haupt- und Ehrenamtliche. Wir haben im Bereich der Sterbe- und Trauerbegleitung die technischen Aspekte moderner Kommunikation zu lange und zu sträflich vernachlässigt und uns zu sehr auf Methoden und die Interaktion von Mensch zu Mensch verlassen. Beides spielt jetzt nicht mehr die Hauptrolle und ist anfälliger, als wir das jemals geahnt hätten, das könnte eine der späteren Lehren aus dieser Krise sein. In Ahrensburg ist kürzlich in Sachen Sterbebegleitung ein I-Pad mit Video-App für den Kontakt von Seelsorgern und Begleitern zu den Sterbenden getestet worden - das ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung.





4.) Aller Digitalisierung zum Trotz dürfen wir auch die analogen Lösungen nicht aus den Augen verlieren. Trauerbegleitung per Brief, im Hin und Her des geschriebenen Wortes, auch das wäre ja möglich. Es wäre eine klassische, angenehm langsame Art und Weise sich zu verständigen, die ihre ganz eigenen Qualitäten mit sich bringt. Sich Briefe zu schreiben, ganz altmodisch auf Papier, einen Brief in den gelben Kasten zu werfen und dann erstmal ein paar Tage lang auf die Antwort zu warten, das war zu meinen Sturm-und-Drang-Zeiten Anfang der 90er - vor E-Mails und Internet - fast die einzige Möglichkeit der Konversation. Jedenfalls war es damals die günstigere Art, denn das Telefonieren hatte je nach Uhrzeit noch schwankende Preise und war naturgemäß dann am Teuersten, wenn es alle taten (außerdem haben es die Eltern nicht so gerne gesehen, wenn sie an ihr Telefon gar nicht mehr drankamen). Kürzlich habe ich über das Bremer Stadttheater gelesen, dass dieses als Antwort auf die Coronakrise zahlreiche neue Brieffreundschaften angeboten und eingerichtet hat und dass vom technischen Direktor über die Sänger und Sängerinnnen, sogar  bis zur Souffleuse, alle dort Arbeitenden angeschrieben werden können und dann auch antworten. Das hat mir gezeigt: So wichtig die Digitalisierung jetzt auch ist, sie ist nicht die einzige und nicht die letzte Möglichkeit. Wer sich bislang in einer Trauer- und Verlustkrise hat begleiten lassen, freut sich vielleicht über einen ganz persönlichen Brief und natürlich per Telefon, das sind gute Möglichkeiten, in Kontakt zu treten und zu bleiben.

5.) Müssen wir noch einmal neu darüber nachdenken, wie wir mit Schuldfragen im Trauerkontext umgehen wollen? Sollten wir uns hierfür neu professionalisieren? Noch sind wir von den befürchteten Katastrophenzuständen verschont geblieben, die gerne als "Triage" bezeichnet werden - aber falls sie kommen sollten, vielleicht auch erst in der befürchteten zweiten Welle im Herbst, werden wir die Themen Schuld und Trauer ganz neu erleben. Denn dann haben wir es plötzlich mit einer tatsächlichen Schuld zu tun, die Ärzte willentlich und wissentlich auf sich genommen haben, weil es zu ihren Aufgaben gehörte. Was macht das mit den Angehörigen, deren Corona-Infizierte von einem Arzt zu den nicht mehr zu Rettenden, im Wortsinne, "sortiert" wurde (das Wort "Triage" leitet sich vom Sortieren von Kaffeebohnen ab, sagt Wikipedia)? Wie wollen wir mit der berechtigten Wut der Angehörigen auf diese Übermacht der Ärzte umgehen? Wie wollen wir damit umgehen, dass Schuld jetzt einen Kanal finden kann, auf den sie sich berechtigterweise fokussiert? Was macht das mit den Ärzten selbst? Müssten wir nicht auch sie mit in den Blick nehmen? Wäre überhaupt Zeit und Raum dafür? Chris Paul kann sich auf viel Arbeit und Anfragen einstellen, denn es braucht jetzt Experten wie sie, damit wir diese Fragen neu durchdenken und neu bewerten können. Wichtig wäre vor allem: Sich jetzt und in Ruhe vorzubereiten. Wenn das Chaos erstmal ausgebrochen sein sollte, dürfte es zu spät sein, wenn es ausbleibt, ist es trotzdem gut, dass wir diese Themen nochmal neu durchdacht haben. Wobei wir es dann mit einer Gesellschaft zu tun hätten, die immer mehr in Richtung eines kollektiven Traumas torkelt, was wiederum alles in Frage stellt - braucht es dann noch Trauerbegleitung? Gerade dann? Braucht es etwas anderes?





6.) Wir müssen über Geld reden. Wir müssen die Finanzierung von Trauerbegleitung auf neue Beine stellen und groß denken. Eine Spende hier, eine Spende dort, ein paar Einzelanbieter hier, ein paar dort. So weit, so gut. Und das große Ganze? Trauerbegleitung krankt am Geld, überall. Auch die paar wenigen versprengselten Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter sowie die Institutionen, die bislang mit ihrer Arbeit autonom sein konnten, dürften jetzt ins Straucheln geraten. Mit einer ausbrechenden Rezession, mit Kurzarbeit überall und mit wirtschaftlich düsteren Prognosen wird die Spendenbereitschaft der Unternehmen und Menschen einknicken. Wobei, die Bereitschaft eher nicht, vielmehr die finanziellen Möglichkeiten dafür. Wer kann diese Lücken füllen? Wie kann das deutschlandweit aufgestellt werden? Es wird Zeit, einmal ganz groß und "Out Of The Box" zu denken, kreativ und ohne Scheuklappen, Tür auf und alle mit rein in das Walt-Disney-Traumzimmer. Wie wäre es mit einem "Finanzierungs-Think-Tank", einer Denkfabrik, gesteuert vielleicht durch den Bundesverband Trauerbegleitung, aber nicht alleine darin implementiert. Wie wäre es mit Messe-Vorträgen und -Beiträgen nicht alleine über unsere wertvolle Arbeit, sondern auch über die Frage, wie wir sie finanziert bekommen/bekommen haben. Der Fundraising-Vortrag von Nici Friederichsen auf der digitalen "Leben und Tod" ist da ein sehr guter Start. Es ist an der Zeit für das aktive Suchen nach Stiftungen und anderen Geldgebern, die bereit sind, hier mit einzusteigen und die selbst gut durch die Krise manövrieren können. Und wir müssen da noch größer werden, vielleicht auch selbstbewusster. Was wir jetzt dringend verhindern sollten: Dass es der Trauerbegleitung so geht wie dem Journalismus. Der erfährt gerade eine enorme Trendwende, weg von "Fake News" und "überflüssig" hin zu "Wir brauchen das!", lässt sich aber trotzdem nicht mehr überall finanzieren. Gerade in dem Augenblick, wo die Leute wieder Journalismus wollen, ist er finanziell gesehen auf dem Sterbebett. Und unsere Begleitungsaktivitäten? Vielleicht kommt zu den vielen Verlusten, die wir als Gesellschaft derzeit erleiden, auch der stückweise Verlust von Trauerbegleitung dazu. Alles hängt am Gelde. Punkt.  

7.) Lasst uns durch noch professionellere Öffentlichkeitsarbeit die Relevanz von Trauerbegleitung unterstreichen. Wieso gibt es eigentlich keine professionell gemachte Publikumszeitschrift in den Kioskregalen an Bahnhöfen und im Buchhandel, die die Themen Tod, Trauer und Sterben für eine allgemein interessierte Leserschaft breitenwirksam anzubieten versteht? Also eine richtige Zeitschrift, mit Lesegeschichten, konkreten Tipps, mit einem angenehmen Wechsel aus Kleinteiligem und Großzügigem. Zwar gibt es bereits zwei Projekte, die in diesem Segment gut unterwegs sind. Das ist zum einen das Magazin "Drunter und drüber", herausgegeben von der Funus-Stiftung, bereits ein gut gemachtes Heft, das diese Themen ansprechend rüberzubringen versteht - aber auch dieses Magazin hat es noch nicht an den Kiosk geschafft und will das auch gar nicht. Und zum zweiten ist es die Zeitschrift "Leben und Tod" aus Dresden, die auf ihrer Website immerhin dem Buchhandel eine Möglichkeit für die Bestellung angibt. Im Bahnhofskiosk ist sie mir allerdings ebenfalls noch nicht untergekommen. Dabei wäre es gerade jetzt an der Zeit dafür, jetzt, wo allen Menschen in unserer Gesellschaft die Themen Tod, Trauer und Sterben nochmal ganz neu ins Bewusstsein geraten sind. Eine solche Zeitschrift in den Markt zu geben, ist ein alter und großer Traum von mir. Ich träume von einer Erstausgabe, die auf ihrem Cover die aneinandergereihten Särge aus Italien zeigt. Das wäre der richtige Knaller zur richtigen Zeit. Es ist ganz sicher ein gewaltiges finanzielles Wagnis, zumal in diesen Zeiten der wegbrechenden Anzeigenmärkte und des nicht mehr überall gegenzufinanzierenden Journalismus'. In einem solchen Heft könnten zudem professionelle Trauerbegleiter zu Wort kommen und auf speziellen kleinen Anzeigenseiten zu einem kleinen Preis ihre Angebote präsentieren. Ansonsten gilt auch für Trauerbegleiter, dass sie sich selbst und ihre wertvolle Arbeit weiter sichtbar machen müssen - und viele tun das ja auch bereits. Wobei es da immer noch Luft nach oben gibt. Viel zu viele Angebote und Anbieter verlassen sich nach meinen persönlichen Erfahrungen alleine auf die Meldungsspalten der gedruckten Tageszeitungen. Und wer zusätzlich bei Facebook unterwegs ist, muss immer wieder die eigentlich frustrierende Erfahrung machen, dass das, was man dort postet, die eigene Filterblase selten verlässt. Man bleibt also unter sich. Das ist sinnvoll im Sinne des Netzwerkens und Informationsaustauschs untereinander, aber wer ein breiteres Publikum ansprechen möchte, braucht andere Kanäle und Möglichkeiten.  

Eine Bemerkung noch zum Schluss: Dieser Artikel ist entstanden über einen Zeitraum von eineinhalb Wochen Ende April bis Anfang Mai 2020, während sich hier und da ganz langsam erste Lockerungsdiskussionen in manchen Bereichen entspannten und jungen Eltern andernorts wieder neue Frechheiten zugemutet wurden, nach dem Motto: Regelt mal Eure Kinder-Kita-Ersatzbetreuungen besser selbst.... Sei's drum: Wenn ich diesen Artikel veröffentlichen werde, spätestens zur Messe am 8./9. Mai, wird die Welt vermutlich schon wieder etwas anders aussehen, vielleicht auch meine Welt. Aber vielleicht rollt spätestens im Herbst schon die nächste Welle mit Infektionen, Kontaktsperren, geschlossenen Einrichtungen über uns hinweg. Auch das ist neu: Diese Unplanbarkeit und Unwägbarkeit in allem, was sich tagtäglich tut. Wir werden auch damit leben müssen. Über das Wie müssten wir uns dann noch unterhalten. Beim nächsten Mal.  

Und jetzt bin ich gespannt auf Meinungen, Kommentare, Ergänzungen, Diskussionen, gerne hier im Kommentarfeld oder per E-Mail an thomas-achenbach@gmx.de. 

Und hier noch, wie versprochen, die Linksammlung der in diesem Artikel benutzten Informationen und Fakten:

1.) Laptops in der Sterbegleitung - Pilotversuch aus Bargteheide:
https://www.bargteheideaktuell.de/aktuell/63532/niemand-soll-alleine-sterben-digitale-sterbebegleitung-in-zeiten-der-corona-pandemie/

2.) Wie sich das Magazin "Drunter und Drüber" publikumswirksam dem Tod widmet:
https://trauer-ist-leben.blogspot.com/2016/06/leute-beschaftigt-euch-mit-den-themen.html

3.) Wie sich Angela Merkels Kabinett über "Pipi-Kacka"-Familienfragen lustig macht:
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-beschluesse-zu-schulen-und-kitas-mehr-pipi-kacka-fragen-wagen-kommentar-a-731443e9-7374-4dac-8bf3-b78b592a3246

4.) Wie Markus Söder Familienfragen als "Micky-Maus-Politik" abtut:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-beratungen-mit-angela-merkel-von-micky-maeusen-und-ministerpraesidenten-a-00fcef90-e1bc-46e4-9e3f-c16779b7cce1

5.) Wie das Gremium der Leopoldina-Berater zusammengesetzt ist:
https://ze.tt/leopoldina-warum-expertinnenteams-zu-homogen-sind-corona-krise/

6. ) Kristina Schröder sagt: Familien werden komplett im Stich gelassen: 
https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-kitas-kristina-schroeder-1.4886195

7.) Eltern in Niedersachsen sollen Kita-Kinder-Ersatzbetreuung selbst regeln:
https://www.noz.de/deutschland-welt/niedersachsen/artikel/2046219/corona-lockerungen-neue-moeglichkeiten-in-der-kinderbetreuung

Und - weil er einfach so treffend ist - als Extralink hier noch mein Lieblingskommentar zum Thema Kitas zu und Basta:
https://www.sueddeutsche.de/bildung/coronavirus-corona-krise-schulen-kinderbetreuung-1.4876048


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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