Donnerstag, 2. Mai 2019

Was ich jetzt tue, sollte jeder Mensch einmal tun: Seinen Angehörigen eine persönliche Wunschliste fürs Sterbebett zu schreiben - was kann ich tun und sagen, wenn sich das Sterben als ein langsames Ausglühen im Bett vollzieht? Wie können wir so einen Prozess gemeinsam gut gestalten? ("Die Wünsche eines Sterbenden...")

Osnabrück - Einmal angenommen, ich läge irgendwann im Sterben. Und zwar in einem Bett, eingebunden in einen längeren Prozess. Also kein plötzliches Sterben, mehr so die Sorte langsames Ausglühen. Was würde ich mir in einer solchen Situation von meinen Angehörigen und Freunden wünschen? Was fände ich, vermutlich, angenehm, was nicht? Was könnte mir eventuell helfen oder gut tun? Und was von meinen persönlichen Erfahrungen mit solchen Situationen möchte ich vorher gerne noch tèilen? Was ich jetzt tue, sollte jeder Mensch einmal tun: Seinen Angehörigen eine Wunschliste fürs Sterbebett zu schreiben. Natürlich immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass das Leben sowieso seine ganz eigenen Wege geht und dass sich mein Sterben vermutlich/vielleicht ganz anders vollziehen wird - also mehr so Wunschkonzert, heute einmal. Aber warum sich nicht auch einmal ein, soweit es geht, "gutes eigenes" Sterben erträumen? 

Damit wir uns richtig verstehen: Derweil ich diese Zeilen schreibe, gibt es für mich keinerlei konkreten Anlass dafür, von einem baldigen Sterben auszugehen. Weder habe ich irgendwelche Hiobsbotschaften erhalten, meine eigene Gesundheit betreffend, noch habe ich das Gefühl, dass ich ganz dringend mal zum Arzt gehen sollte. Die Überschrift über diesem Artikel müsste also korrekterweise heißen "Die Wünsche eines derzeit noch nicht Sterbenden", aber dann wird das mit den Suchmaschinen und der Bloggertechnik und so wieder etwas komplizierter... 

Allerdings habe ich auch oft erfahren, dass der Tod uns immer viel näher ist, als wir das gerne wahrhaben wollen - und dass jeder Tag, der mit unversehrtem Leben gefüllt sein kann, in Wahrheit ein Geschenk ist. Das ist eine der Lehren, die mir meine Tätigkeit als Trauerbegleiter - vor allem aber: mein Leben als Mensch unter Menschen - bisher vermittelt hat. Es kann also niemals schaden, sich ein paar Gedanken darüber zu machen, wie es wohl sein würde. Und zwar gerade dann, wenn es einem gut geht und die persönliche Betroffenheit noch nicht eingetreten ist. Das kann auch, so bizarr, das klingt, eine gute Übung für das Leben sein. Eckhart Tolle hat es so formuliert: "Der Tod nimmt Dir alles, was Du nicht bist. Der Trick im Leben ist es zu sterben, bevor Du stirbst."  Also, los geht's:

(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

1.) Für meine Familie, zwei Dinge: 


Erstens: Glaubt bitte nicht, dass ich es immer bin, der da noch zu Euch spricht. Vielleicht ist es auch einfach nur meine Krankheit (oder was auch immer mich dahingestreckt hat). Oder es sind die Medikamente.

Das ist eine Erfahrung, von der mir oft die Menschen berichten, die den Sterbeprozess eines anderen miterlebt haben: Wie sehr sich die Persönlichkeit dieses Menschen dadurch verändert. Manchmal sogar richtig erschreckend. 

Dann werden die Menschen plötzlich bösartig und aggressiv, sie stoßen andere vor den Kopf, sagen erschreckende Dinge. Dies geschieht vor allem, so scheint es mir, wenn beispielsweise ein Gehirntumor um sich greift oder wenn die vorangehende Krankheit lange, schmerzhaft und die Kräfte aufzehrend gewesen ist. Einmal angenommen, ich werde es eines Tages sein, der mit langer Krankheit seine eigenen Kräfte verzehrt und die seiner Mitmenschen und der dann alle irgendwie vor den Kopf stößt: Macht Euch bitte bewusst, dass es manchmal einfach die Krankheit ist, die aus mir spricht. Dass das nicht ich bin. Schützt Euch so gut es geht vor Verletzungen, also verbalen Verletzungen, vielleicht am besten, indem ihr Euch an die guten Zeiten erinnert, die wir hatten. An das, was ihr vor dieser Phase an mir geschätzt habt. Es wird uns alle sicher nicht vor dem Schweren bewahren, das da vor uns liegt. Aber es macht es vielleicht ein bisschen erträglicher. Ich bin mein ganzes bisheriges Leben sehr dankbar gewesen für die Menschen, die einen ein Stück begleitet haben - ich weiß das in Wahrheit sehr zu schätzen!

Ich selbst habe es im Sterbeprozess meiner Mutter übrigens als besonders irritierend erlebt, wie sehr Medikamente die Persönlichkeit und den Realitätsbezug eines Menschen verändern können. Meine Mutter hatte zuletzt eine hohe Dosis Morphium bekommen. Und mit jeder Erhöhung veränderten sich ihre Wahrnehmungen. Mal wähnte sie sich im Hotel und wollte ein kleines Frühstück, mal hielt sie mich, ihren Sohn, für meinen Onkel, den Bruder meines Vaters. Alles sehr spooky. Mir hat beim Aushalten der Gedanke geholfen, dass es das Medikament war, das aus ihr sprach, nicht mehr der Mensch, der sie einst einmal war.



Zweitens: Legt Euch ruhig zu mir, also direkt ins Bett - auch wenn ich vielleicht keine konkreten Reaktionen darauf zeige, vertraut einfach darauf, dass ich es schätzen werde.

Mal ganz ehrlich: Was ist das Schönste daran, eine Familie zu haben? Dass man soviel kuscheln kann, oder? Sich morgens nach dem Aufwachen nochmal unter eine Bettdecke zu kuscheln, das ist beispielsweise etwas, das wir mit unserer Tochter gerne tun. Ein bisschen wird man dann wieder selbst zum Kind, innnendrin. Ich habe das jedenfalls immer sehr genossen. Und dann bin ich irgendwo, auf einem Blog, glaube ich, über diese Frage gestolpert: warum sich eigentlich keiner mehr traut, mit den Menschen in Sterbebetten ausgiebig zu kuscheln? Solange keine Schläuche irgendwo rausgerupft werden, sei das überhaupt kein Problem, schon gar nicht für die Sterbenden, hieß es in dem Text. Wie so oft bei Texten, die man so im Vorbeigehen irgendwo wahrnimmt - beim Durchklicken im Internet, also beim Seitenzappen -, habe ich mir leider nicht gemerkt und nicht aufgeschrieben, wo ich das gelesen habe. Das bereue ich jetzt. Aber der Gedanke hat mich geprägt und hat mir gut gefallen: Wenn Ihr Euch also traut, dann legt Euch ruhig zu mir. Es kann sein, dass ich genauso lethargisch und unbewegt bleibe wie vorher, dass ich gar nicht reagiere. Aber ich bin zutiefst überzeugt davon: Ein ganz kleiner wacher Kern da irgendwo in mir drin wird das sehr zu schätzen wissen.


2.) Für alle, die mich betreuen oder begleiten, zwei Dinge:


Erstens: Macht mir gerne etwas Musik an, aber bitte die richtige. Und bitte keine Radio-Dauer-Dudel-Ohrenvergewaltigung. 

Wer mich kennt, der weiß: Musik ist mir heilig. Musik ist mein Leben. Aber dass es auch so etwas gibt wie eine musikalische Zwangsvergewaltigung, habe ich während meines Zivildienstes in einem mittlerweile Gott sei Dank geschlossenen Altersheim erlebt. Da wurden die Bewohner morgens ins gemeinschaftliche Wohnzimmer hineingerollt und es wurde ungefragt der Radiosender angestellt. Der dann den ganzen Tag vor sich hindudelte. Und zwar mit: NDR 1, damals noch zu 95 Prozent durchtränkt von mehlig-fetter deutscher Schlagersauce. Den ganzen Tag! Grausam! Die armen Menschen! Also für mich wäre das eine Qual. 

Dass es der Hörsinn ist, der als Letzter aufgibt in einem sterbenden Körper, gilt heutzutage als medizinisch erwiesen. Da mag alles andere schon weitestgehend abgeschaltet sein: Das Hören geht meistens noch sehr, sehr lange. 

Was ihr mir am Sterbebett also gerne vorspielen dürft - ist halt das, was mich mein ganzes bisheriges Leben lang emotional erreicht und meine Seele ins Schwingen gebracht hat: Opern von Puccini oder Verdi. Das Requiem von Brahms. Überhaupt, Requien, Fauré, von Suppé. Spirituell angehauchte Chormusik von Voces8 oder Eric Whitacre. Die moderne, aber berückend harmonisch klassische Musik von Ola Gjeilo. Bluesig-rockige AOR-Giganten wie Toto oder Journey, unbedingt auch Progressive-Rock, klar, Pink Floyd, Shine On You Crazy Diamond oder Echoes, all das sich richtig lange, in seinem Verlauf weiterentwickelnde Zeugs. Frank Sinatra und die Count-Basie-Bigband habe ich ebenfalls immer gern gehört. 

Und das Alan-Parsons-Project hat mich viele Jahre intensiv begleitet, das ist die Musik meiner ausklingenden Kindheit und beginnenden Teenagerjahre. All sowas. Vermutlich werde ich, wie viele sterbende Menschen, auch auf die Musik keine Reaktion zeigen, so wie auf alles andere. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass es mir in Wahrheit sehr gut gefällt und mich im Inneren irgendwie erreicht, auch wenn ich es nicht mehr zeigen kann.

Ansonsten gilt für mich als Credo immer der folgende Satz: "Alles was im Radio läuft" ist kein Musikgeschmack. Ganz im Gegenteil. Radio ist schrecklich. Also: Formatradio mit "Musik". Dann besser Stille. Kann sowieso nicht schaden. Auch mal etwas Stille zu wagen.



Zweitens: Berichtet und erzählt mir von Euren Plänen im Leben und von dem, was Ihr jetzt so vorhabt. Auch, wenn ich viellleicht nichts mehr dazu sagen werde.

Ihr dürft nicht glauben, dass es herzlos wäre, mir davon zu erzählen. Ganz im Gegenteil: Vielleicht macht ihr es mir gerade dadurch noch einfacher, mich von dieser Welt und von Euch zu trennen. Ich habe das recht oft erlebt, dass die Menschen im Angesicht eines Sterbenden irgendwie das Gefühl haben, die ganze Welt weit auf Abstand halten zu müssen, mitsamt all der Entwicklungen, die es darin geht. Nach dem Motto: Besser nicht mehr vom eigenen Leben und von eigenen Plänen zu erzählen, weil es vielleicht zu bunt und zu lebendig und, vor allem, zu unversehrt sein könnte. Ein so unverletztes Leben einem Sterbenden zuzumuten, das empfinden viele als unpassend.



Ich habe das immer schade gefunden - und falsch. Natürlich sind Sterbende in einem seltsamen Zwischenzustand, natürlich sind sie zu einem Teil bereits von dieser Welt entrückt, natürlich nehmen sie an dieser Welt schon nicht mehr so richtig teil. Aber ist es nicht viel tröstender und hilfreicher - auch und gerade für Sterbende -, bewusst miterleben zu können, wie sehr die Welt sich weiterdrehen wird? Und dass alle, die einem etwas bedeuten, weiterhin ein wichtiger Teil dieser Welt sein werden, dass sie ihr Leben gestalten und weiterhin das Beste daraus zu machen versuchen? Ein Schweigen am Sterbebett sollte niemals aus der falschen Furcht heraus entstehen, man könnte zuviel Leben und Farbe herausbeschwören. Und, was mich selbst angeht, dann erinnert Euch immer daran: Wenn ich es einmal sein sollte, der da im Sterbebett liegt, dann wird dort ein Mensch liegen, der einen (großen) Teil seines Lebens der intensiven Beschäftigung mit den Themen Tod, Sterben und Trauer gewidmet hat. Wer so etwas tut, der weiß, wie sehr das Leben auf Weitermachen drängt und wie sehr die anderen Menschen in ihrem eigenen Leben bleiben werden - und wie gut das ist.

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Alle aktuellen Termine, Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare etc. mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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