Samstag, 6. Mai 2017

"Chefsache Trauer & Tod" - Trauerbegleitung für Firmen & Berufstätige - wie die Handwerkskammer Koblenz (HWK) in einem in Deutschland fast einmaligen Projekt Unternehmen und Mitarbeitern bei Verlustkrisen hilft (Jahresthema Trauer in der Arbeitswelt/Trauer am Arbeitsplatz, Teil 3)

Osnabrück/Koblenz - Nur ein Beispiel dafür, dass der Tod alltäglicher ist als wir das oft wahrhaben wollen: Einmal kam die E-Mail eines Azubis, ja, fast ein Hilferuf eines Azubis, an die Adresse trauerbegleitung@hwk-koblenz.de- "Können Sie bitte ganz schnell kommen, einer unserer Kollegen hat sich umgebracht und wir wissen nicht mehr weiter... Was haben wir falsch gemacht...?". So oder ähnlich lauteten die wenigen Zeilen, aus denen Hilflosigkeit und Verzweiflung herauszulesen war. Einer von über 20 Fällen, die das Projekt "Trauerbegleitung am Arbeitsplatz" in den vergangenen fast acht Jahren betreut hat (Stand: April 2017). Ein Pilotprojekt, das in Deutschland seinesgleichen sucht, nur in Hamburg gibt es ein etwas ähnliches. 

Wo Menschen arbeiten, ist auch der Tod nicht weit. Diese Erfahrung hat die Projektbetreuerin Barbara Koch oft genug alleine schon in der Handwerkskammer Koblenz gemacht: "Bei rund 300 Mitarbeitern haben wir nahezu jede Woche den Fall, dass ein Angehöriger oder ein enger Freund verstirbt", sagt sie im Telefongespräch, das wir kürzlich durchgeführt haben, damit ich in diesem Blog über das Thema berichten kann. Entfernt oder nah, Kollege oder Angehörige, Familie oder Freundeskreis - der Tod ist immer irgendwo. Und mit der systemischen Brille betrachtet: Wer damit betroffen ist, nimmt das Thema zwangsläufig in seine Umfelder mit hinein. Natürlich auch in die Arbeitswelt. 


Um Resilienz und Trauer am Arbeitsplatz/Trauer im Berufsleben ging es bei zwei Veranstaltungen, die die Handwerkskammer Koblenz im März durchführte.    (HWK-Koblenz-Foto) 

Jedoch: Trauer und Arbeitsplatz, das war nirgends ein Thema. Anlass genug für den Kardiologen und Palliativmediziner Dr. Martin Fuchs, sich für ein entsprechendes Projekt einen Kooperationspartner zu suchen. Das war im Jahre 2009 und bei der Handwerkskammer Koblenz stieß er auf Interesse und offene Ohren. Wobei gesagt werden muss: Obwohl eng mit der Handwerkskammer verknüpft, handelt es sich jedoch um ein ehrenamtlich betriebenes Projekt, das sich an alle richtet, die es gebrauchen könnten - und nicht bloß an handwerkliche Betriebe, die Mitglieder der Kammer sind. "Ich müsste sonst bei jedem Anrufer zuerst fragen: Sind Sie auch in der Handwerksrolle eingetragen?", beschreibt Barbara Koch die Herausforderung.



Hilfe nicht nur für Handwerksbetriebe


Und außerdem sagt sie...: "Ich will das so!" Also betreibt die hauptamtlich als Geschäftsführerin für Personal und Finanzen arbeitende 52-Jährige die Themen Krise und Trauer am Arbeitsplatz zwar von ihrem Schreibtisch in der Handwerkskammer aus, aber – wie alle Projektmitglieder - rein ehrenamtlich. Seit 2009 ist eine Telefonhotline eingerichtet, an die sich Menschen in einer krisenhaften Trauersituation wenden können. Die Erfahrungen, die die Projektbetreuer bislang gemacht haben, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

- Das Interesse an einer individuellen Beratung bei Einzelpersonen ist größer 
- Das Interesse von Unternehmen an Beratungen war geringer als gedacht
- Es haben sich zu etwa 80 % Arbeitnehmer gemeldet, zu rund 20 % Betriebe
Es besteht ein großer Wunsch nach Anonymität/also anonymer Hilfe und Beratung
- Und: Je größer ein Unternehmen ist, desto wichtiger ist das Thema 


Überraschung: Je größer die Firma, desto hilfsbedürftiger


Vor allem die letztere Erfahrung hatte die Initiatoren des Projekts erst überrascht, wie Barbara Koch mir in einem Telefongespräch berichtete. "Wir hatten gedacht, das sei ein Thema für die kleinen und mittelständischen Betriebe - aber das Gegenteil ist der Fall", erzählt sie. "Es hat sich herausgestellt: je größer der Betrieb, desto größer der Bedarf." Auch ein Dax-Unternehmen war schon bei den Interessenten dabei. Vermutlich, sagt Koch, ist in kleineren Betrieben eben wegen der größeren Nähe zueinander ein ganz anderer Umgang mit den Themen Tod und Sterben möglich - und Praxis.


Erst Anruf, dann Hilfe - so funktioniert das Projekt


Und so funktioniert das Projekt: In einem Erstkontakt am Telefon werden anhand einer Checkliste die wichtigsten Fakten erfragt - unter größter Vertraulichkeit und hohem Datenschutz. Wie lassen sich die Länge, Art und Auswirkungen der Trauer beschreiben (von 14 Tagen Abstand zum Ereignis bis zu 5 Jahren war alles schon dabei)? Wo ist das größte Problem? Wer hilft schon? Dann die Frage: Darf ich ihren Chef kontaktieren (interessante Erfahrung: das wollen die meisten nicht)? Eine wichtige Frage bei kleineren Unternehmen: Ist Ihr Betrieb in Gefahr (weil beispielsweise der Firmengründer und Geschäftsführer gestorben ist)?


Die Hochschule ist mit dabei - wissenschaftliche Begleitung


Danach wird ausgelotet, wer helfen kann, wer kurzfristig ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Anrufer führt. Oft gefragt ist der Projektgründer Dr. Martin Fuchs. Aber auch eine professionelle Trauerbegleiterin gehört zum Team und übernimmt persönliche Gespräche. Parallel wird das Projekt von einer Hochschule begleitet - nämlich vom Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau (und demnächst vermutlich von der Uni Bonn). Ein Semester lang geht es innerhalb des Soziologiestudiums um die Themen Tod und Trauer und Berufsleben... "In diesem Teil des Projekts ist durch das Engagement der Studierenden derzeit viel Dynamik'", erzählt Barbara Koch. 


Auch Krankenhäuser klopften an - was tun, wenn Patienten sterben?


Auch das mediale Interesse an dem Projekt ist derzeit sehr groß. Außerdem kommen allgemeine Anfragen zum Projekt, der Wunsch nach Handlungshilfen kommt aus ganz Deutschland und verteilt sich auf alle Branchen. So sind auch Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen bei den Anfragenden dabei (Trauer bei Patientenverlust) ebenso wie Betreiber von ÖPNV-Diensten (Trauer nach Unfällen/Suiziden). Nur eines ist noch schwierig...: 

Um Resilienz und Trauer am Arbeitsplatz/Trauer im Berufsleben ging es bei zwei Veranstaltungen, die die Handwerkskammer Koblenz im März durchführte.    (HWK-Koblenz-Foto)

Genügend Interessenten für Veranstaltungen zum Thema zu gewinnen. „Wir sind diesbezüglich bisher auf geringe Resonanz gestoßen. Trotzdem machen wir immer wieder einen Anlauf“, wie Barbara Koch beschreibt: "Wir ziehen das jetzt einfach durch!"; sagt sie lachend im Hinblick auf die geplante "Chefsache - Resilienz und Trauerbegleitung am Arbeitsplatz". Am Ende waren es immerhin rund 50 Besucher, die zu den beiden am 16. März in Simmern und am 22. März in Koblenz veranstalteten Workshops gekommen waren.


Trauerbegleitung ist auch Gesundheitsmanagement


Klar ist jedoch in jedem Fall: "Das Thema Trauer am Arbeitsplatz steht in ganz enger Verbindung mit dem Thema attraktiver Arbeitgeber - das gehört einfach dazu", sagt Barbara Koch. Und weil sich derzeit ganz viel tut in Sachen "BGM" - also dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement - ist das Thema auch bei der HwK Koblenz selbst eben dort mit angesiedelt. 

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Das Buch zum Thema: "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" von Thomas Achenbach aus dem Campus-Verlag enthält viele Tipps und Anregungen rund um die Themen Trauer am Arbeitsplatz, Mitarbeiter in Pflegeverantwortung und mehr.

Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an. Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum das Sterben in Deutschland seit Januar 2020 nochmal deutlich teurer geworden ist - Die so genannte Leichenschau steht in der Kritik

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen