Donnerstag, 18. Mai 2017

Warum "Tote Mädchen lügen nicht" für Trauernde nicht geeignet ist, schon gar nicht nach Suizid - eine Warnung vor dem Netflix-Serienphänomen "13 Reasons Why" aus Sicht eines Trauerbegleiters

Osnabrück - Erst "Tote Mädchen lügen nicht", Staffel 1, mit der Suizidszene, dann "To The Bone", dann die zweite Staffel der toten Mädchen mit einem geplanten Amoklauf an einer Schule  - der Bezahlsender versucht es derzeit mit kalkulierten Tabubrüchen. Und hat Erfolg. Über die Netflix-TV-Serie "Tote Mädchen lügen nicht " ("13 Reasons Why") und den darin gezeigten Suizid der Hauptfigur ist schon viel geschrieben und gesagt worden. Nur das eine wird meiner Meinung nach nicht deutlich genug betont und zu selten gesagt: Wie perfide und perfekt diese Serie - und natürlich auch der zugrundeliegende Roman - einen der größten Teenager- und Suizidantenträume bedient. Nennen wir ihn den "Wenn ich gehe, werdet Ihr alle leiden"-Rache-Faktor. Das ist es vor allem, was den Stoff meiner Meinung so gefährlich macht. Oder, für stabilere Zuschauer, so faszinierend. Halt beides. Es ist ein konstantes, leider verflixt gut gemachtes Spiel mit den Extremen. Jedoch gilt auch - und das ist der Fokus dieses Blogs: Für Menschen in einer Verlustkrise, also für Trauernde, ist die Serie eher ungeeignet. Auch wenn sie Trauernde durchaus treffend darstellt.

Bei aller Kritik: So manches Mal weiß die Netflix-Serie "Toten Mädchen lügen nicht" positiv zu überraschen. So beispielsweise in einer Szene, in der die Eltern aller Highschool-Schüler vom Vertrauenslehrer über Suizid und die Warnzeichen dafür aufgeklärt werden. Als eine Mutter dann zynisch fragt: "Und wieso hat dieses Mädchen sich dann umgebracht?", ertönt aus der hintersten Ecke eine wütende Antwort: "Der Name dieses Mädchens ist Hannah!". Die Frau, die das sagt, ist ihre Mutter. Mit so einem Detail trifft "13 Reasons Why" psychologisch gesehen ins Schwarze: Tatsächlich leiden verwaiste Eltern oft darunter, dass sich kaum einer mehr traut, ihre gestorbenen Kinder bei ihrem Namen zu nennen. Oder überhaupt über sie zu sprechen. "Das ist für uns, als würden unsere Kinder immer und immer wieder sterben", kann es dann heißen. 

Er läuft ihrem Leben hinterher: Dylan Minette als Clay Jensen und Katherine Langford als Hannah Baker in der Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" ("13 Reasons Why") - ist die umstrittene TV-Serie gefährlich?  (Netflix-Media-Center/Netflix-Pressefoto)

Der Verstorbenen ihren Namen und damit ihre Würde zurückgeben zu können - und unbedingt herauszufinden, wieso sie sich hat suizidieren wollen, das hat sich Hannahs Mutter zu ihrer heiligen Mission gemacht. Und wenn auch die Serienautoren, die die Buchvorlage zu der Serie um ein paar Rahmenhandlungen erweitert haben, diese leidende Mutter vielleicht ein bisschen früh nach dem Suizid ihrer Tochter mit soviel wütender Energie ausgestattet haben - denn nicht selten fühlen sich die Eltern von Kindern, die sich suizidiert haben, über längere Zeit ohnmächtig, zu Boden gedrückt und zu kaum einer Regung fähig -, ist es zutreffend, dass es noch eine Phase der Aggression und der blinden Wut geben kann in so einem Trauerprozess. Hier sind die Serienmacher also nah dran an der Realität. Das ist jedoch eine Ausnahme - und sie zeigt sich nur in kleinen Details am Rande. Beispielsweise in der Tatsache, dass sich niemand mehr in dem Drugstore von Hannahs Vater einzukaufen traut. Um den trauernden Eltern nicht zu begegnen. Das kennen Trauernde auch: Dass Bekannte plötzlich die Straßenseite wechseln, nicht mehr mit ihnen sprechen wollen, Kontakt vermeiden - aus lauter Unsicherheit und falsch verstandener Angst.


Unterschiede zwischen dem Buch und der Serie


An einer anderen Stelle allerdings zeigen die Serienmacher, wie Hannahs Eltern abends in ein schönes Restaurant am Hafen ausgehen und dort essen gehen. Wohlgemerkt: Nur wenige Tage, vielleicht wenige Wochen nach dem Suizid ihrer Tochter. Diese Szene halte ich für komplett unrealistisch. Kaum vorstellbar, dass das jemand schaffen kann, der einen Menschen durch Suizid verloren hat. Im Buch übrigens fehlt dieser ganze Handlungsstrang komplett. Übrigens gibt es durchaus eine Reihe von Unterschieden zwischen dem Buch und der Serie (mehr dazu bald an anderer Stelle). Die gravierendste Änderung beispielsweise: Im Buch hört Clay alle Cassetten innerhalb von nur einer Nacht - in der Serie stoppt er immer wieder, so dass der Prozess ganze zwei Wochen dauert. Tja, was das angeht, halte ich persönlich das Buch für schlüssiger: Ich könnte das jedenfalls nicht - so lange zu warten, bis ich vielleicht selbst einmal eine Rolle spielen auf den Cassetten. 


Unerträglich: Der Suizid und die Szene danach


Und überhaupt, der Suizid: Die allerschlimmste Szene aus der TV-Serie ist dann eigentlich gar nicht das - hier explizit gezeigte - Aufschlitzen der Adern in der Badewanne, als Hannah sich suizidert, sondern die Sequenz kurz danach, wenn die Eltern ihr kleines Mädchen im überlaufenden rosa eingefärbten Wasser finden. Diese letzten Sekunden der Hoffnung, wenn Mama Baker ihre Tochter noch retten und rausholen möchte - und was dann an Schmerz folgen wird. Unerträglich. Auch so schon. Und wie soll sich das alles, jemand angucken können, der das selbst durchgemacht hat? Im Buch gibt es auch diese Szene übrigens nicht (siehe dazu auch meinen Blogbeitrag: "10 Gründe, warum das Buch wesentlich besser ist als die TV-Serie" - hier klicken). 


Details sind wichtig: Hannah Baker hat bipolare Störung 


Aber zurück zu Hannah Baker. Was genau fühlt und denkt sie? Wieso entscheidet sie sich nicht nur dazu, sich umzubringen, sondern auch noch dazu, in Form von verschickten selbst besprochenen und kopierten Audiocassettten exakt 13 Gründe dafür anzugeben (super retro, übrigens - der Autor stammt wie ich aus dem Jahr 1975). Auch, was das angeht, ist es wichtig, auf die Details am Rande zu achten: Zum Beispiel in der dritten Folge. Da wird, wie ich finde, sehr klar angedeutet, dass die Hauptperson Hannah bipolar gestört war. Also manisch depressiv. Es ist eine ganz kurze Aussage von Hannas Mama in einem Gespräch mit dem Schuldirektor, die diese Andeutungen in sich trägt. Sinngemäß lautet sie: 


Da sitzt sie alleine am Tisch, weil sich keiner zu ihr setzen mag. Soziale Isolation ist eines der Themen, die in der Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" ("13 Reasons Why") dekliniert werden - aber wie realistisch ist die umstrittene TV-Serie?  (Netflix-Media-Center/Netflix-Pressefoto)

Manchmal ist sie, also Hannah, singend und überbordend fröhlich durchs Haus gehüpft und an anderen Tagen war sie wieder total still und niedergeschlagen ("moody", heißt es so wunderbar treffend im englischen Originalton). Dass die Serie - und wohl auch die literarische Vorlage - solcherlei Andeutungen macht, ist wichtig und richtig. Denn alle Menschen, die in der Suizidprävention arbeiten, betonen immer wieder: Die meisten Suizide sind Folge einer Erkrankung - einer Erkrankung, die behandelt werden kann (anonyme Hilfe gibt es auch im Internet, mehr dazu am Ende dieses Artikels). Ach, und, was die Cassetten angeht, eine kleine Randbemerkung: Weil es ja gleich mehrere Sätze dieser 13 Cassetten gibt und weil das Kopieren einer einzelnen Cassette auf 98 Prozent aller Geräte - und Hannah benutzt einen minikleinen Recorder - nur in Echtzeit möglich war/möglich ist, dürfte alleine der Kopiervorgang mehrere Tage, wenigstens halt 13 Stunden, in Anspruch genommen haben... hmmm...nun ja... Überhaupt schrammt die Retro-Verliebtheit Jay Ashers gelegentlich an der Grenze zum Unglaubwürdigen entlang: Cybermobbing findet hier zwar statt, soziale Netzwerke ebenfalls, aber beides eher so unter "ferner liefen". Nun ja, bislang jedenfalls, ich bin ja noch nicht ganz bis zum Ende durchgekommen.


Wer Suizid verstehen will, ist hier fehl am Platze


Wer sich jedoch derzeit in einer Verlustkrise befindet und wer sich von "13 Reasons Why" vielleicht erhofft, hilfreiche Aufklärung darüber finden zu können, warum sich Menschen suizidieren und was sie fühlen und denken, bevor dies geschieht, sollte von der Serie und dem Buch die Finger lassen. Hier wird doch allzu offensiv mit dem Rachefaktor geflirtet. Hier sind die Ereignisse, die auf die Hauptfigur einprasseln, in ihrer Fülle doch zu massiv und zu ekzessiv, um noch realistisch zu sein. Außerdem sind die Figuren und die Handlung doch allzu sehr im amerikanischen Highschoolsystem verortet, über das man wissen muss, dass es hier - anders als im deutschen Schulsystem - von Beginn an keine Klassenverbände mehr gibt, sondern ein reines Kurssystem. Soll heißen: in Amerika kommen die Schüler aus der Middle School und damit aus vertrauten sozialen Verbundsystemen direkt auf die High School (ab Klasse Neun) und ins Kurssystem - und wer dort keine Clique hat, keine Freunde, keine sozialen Netze, der hat es besonders schwer. Der ist sofort Außenseiter. Dieser Faktor spielt eine entscheidende Rolle in "Toten Mädchen lügen nicht". 


Besuch an Hannahs Grab - Szene aus der Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" ("13 Reasons Why") - die umstrittene TV-Serie wird derzeit heftig diskutiert. (Netflix-Media-Center/Netflix-Pressefoto)

Vor allem aber wird im weiteren Verlauf der Handlung der Drama-Faktor mächtig überstrapaziert - noch habe ich das zwar nicht alles selbst gesehen, sondern mir hübsch zusammengespoilert, aber auch so schon klingt es nach "too much": Vergewaltigungen, schicksalshafte Kettenreaktionen, vertuschte kriminelle Vorgehen, Stalking, Mobbing, das und mehr spielt noch eine Rolle. Uff! Das ist besonders schade, weil es der Serie erstens die Chance nimmt, eine an der Realität orientierte Debatte über das Thema Suizid herbeizuführen (im echten Leben sind es eben gar nicht immer die dicken Kloppser, die zur Selbsttötung führen) und weil die Serie sich zweitens die Chancen ihres Anfangs verbaut. Denn zu Beginn ist alles noch sehr dezent. Wie im echten Leben. Da sind die Strapazen, denen Hanna Baker ausgesetzt sind, noch fast alltäglich, so dass man sich fragt: Wieso musste es denn soweit kommen? Wieso hat sie auf andere immer den Eindruck gemacht, eigentlich so schlagkräftig und tough zu sein, und dennoch so unbemerkt soviel gelitten? Und mit diesen Fragen des Anfangs ist die Serie der Realität der echten "Angehörigen um Suizid" so viel näher als in ihrem weiteren Verlauf.

Wir erfahren so gut wie nichts aus Hannahs Innenleben


Dass Hannah eigentlich viel zu schlagfertig und kess ist, um sich unterkriegen zu lassen, ist übrigens auch ein Eindruck, den sie auf die Zuschauer der Serie macht. Was sich in ihr drin tut, bleibt rätselhaft. Denn Autor Jay Asher und die Serienmacher setzen konsequent die allererste heilige Erste Grundregel um, die angehende Schriftsteller in allen Creative-Writing-Kursen und -Ratgebern eingebläut bekommen: Du sollst zeigen, nicht erklären. Du sollst Szenen liefern oder Dialoge. Nicht Ausschweifungen. Auch auf ihren Cassetten berichtet die Figur Hannah also nur von dem, was geschehen ist. Nicht aber von dem, was es im tiefsten Innern mit ihr gemacht hat... - da ist der Leser gefragt, sich seinen Teil zu denken. Okay, zugegeben, ich bin noch nicht ganz durch mit der ganzen Serie und dem dazugehörigen Buch... Je nachdem, wie sich beides entwickelt, gibt es in Kürze noch einen zweiten Artikel dazu. Vorerst: Sehr gut gemachte Serie, aber weiß Gott nicht für Jedermann geeignet. 

Wichtig: Wer tatsächlich an einen Suizid denkt und diese Gedanken nicht loswird, findet kostenlose und anonyme Hilfe z.B. bei der Telefonseelsorge unter 0800/1110111 - oder als E-Mail-Beratung über die Internetseite www.telefonseelsorge.de

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

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