Sonntag, 23. April 2017

"Man hört sich nicht mehr leben..." - Männer trauern, aber anders - oder: Von wegen nasser Klumpen! Ein Artikel über Männertrauer und darüber, was Männer in Trauer brauchen

Osnabrück - Männer trauern, aber anders... Oder: Von wegen kalter Klumpen! Inzwischen habe ich zu diesem Thema bereits ein eigenes Buch veröffentlicht und einige Vorträge gehalten (ein Bericht darüber findet sich beispielsweise hier) sowie weitere Beiträge geschrieben. Aber einer der allerersten Artikel, den ich zu diesem Thema verfassen durfte, ist im "Columba-Magazin" aus Bamberg erschienen, einer Fachzeitschrift für die Palliativ- und Hospizszene. Männertrauer bleibt ein wichtiges Thema, zu dem es nur wenige Experten gibt, wie ich in der Recherche zum Thema immer wieder feststellen kann. Dabei geholfen hat mir, dass ich das Thema ebenfalls nicht zum ersten Mal bearbeitet habe - mich aber auf die Suche nach ergänzenden Informationen gemacht habe und auch fündig geworden bin. Hier ist mein Beitrag zum Nachlesen...: 

"... Der eine macht stundenlange Spaziergänge, aber bitte alleine. Der andere zieht sich komplett aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Wieder ein anderer will keine Gottesdienste mehr besuchen, weil er beim Singen immer weinen muss – und er ist ausgerechnet ein Pastor im Ruhestand. So oder so ähnlich beschreiben die Witwer in dem Buch „Männer trauern anders“ ihre Gefühle und ihre Trauerprozesse. Sie liefern gute Hinweise. Denn das größte Verdienst dieser Berichte, die der ebenfalls verwitwete Ex-Wissenschaftler Dr. Martin Kreuels zusammengetragen hat, ist diese Annäherung an ein Phänomen, das noch nicht ausreichend untersucht ist: Die Männertrauer.

Männer trauern, aber anders... Dieser Artikel über Männertrauer erschien auch in der Ausgabe 1/2017 des Columba-Magazins. Schick gestaltet.    (Thomas-Achenbach-Foto) 

Trauer, Tod und Sterben sind weibliche Themen. Dazu bedarf es keiner wissenschaftlichen Untersuchung, es genügt ein Blick in die Fachmagazine der Hospiz- und Palliativszene oder in die lokale Zeitung vor Ort. Der neueste Ehrenamtskurs des örtlichen Hospizvereins…: Nur Frauen. Ein Kurs für angehende Trauerbegleiter nach den Kriterien des neu dafür gegründeten Bundesverbands…: Zwei Männer, neun Frauen. Das Bundestreffen der im Verband organisierten Trauerbegleiter…: Zu 95 Prozent Frauen.

Trauer, Tod und Sterben bleiben Frauenthemen - warum?


Was ist da los? Wo bleiben die Herren? Dass sich dieser Mangel an männlichen Kräften negativ auswirken kann, davon ist Martin Kreuels überzeugt: „Die pflegerische und psychosoziale Begleitung Hochbetagter und lebensbegrenzt Erkrankter in Krankenhäusern, auf Palliativstationen, in Seniorenheimen und Hospizen ist frauendominiert. Das führt dazu, dass wir wenig über die Wünsche und Gedanken von Männern wissen.“ Und dass diese nicht genug berücksichtigt werden. So formuliert es Kreuel in einem Flyer zu einem Projekt, das im Sommer 2016 startete: Gesucht sind sterbende Männer, die über ihre Wünsche und Gefühle reden. Damit sich die Hospiz- und Palliativszene besser auf sie einstellen kann.


Kein Thema in der Wissenschaft - wenig zu finden


Nicht nur beim Sterben, auch in Sachen Trauer gilt: Was Frauen hilft, ist nicht immer gut für die Herren. Doch wer sich auf die Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen über Männertrauer macht, der läuft bald ins Leere. Lediglich dem Superintendenten Dr. Helmut Kirschstein aus der ostfriesischen Stadt Norden ist es gelungen, für einen 2015 gehaltenen Vortrag vor der Selbsthilfegruppe verwaister Eltern in Bramsche-Ueffeln ein paar bemerkenswerte Fakten zusammentragen zu können, die eine Annäherung ermöglichen.


Bei Frauen täglich 5000 Worte mehr - im Reden


Er zitiert Untersuchungen von Wissenschaftlern, die das männliche Gehirn mit dem weiblichen verglichen haben. Die wichtigste Erkenntnis: „Bei Männern lassen sich die Gefühle in der rechten Gehirnhälfte an zwei bestimmten Stellen orten: Sie können getrennt von anderen Gehirnfunktionen verarbeitet werden. Die Gefühlswahrnehmung bei Frauen verteilt sich dagegen über beide Gehirnhälften, ohne sich an bestimmten Stellen besonders orten zu lassen“, wie es Kirschstein formuliert. Soll heißen: Männer bearbeiten ihre Gefühle schon rein biologisch gesehen an anderen Orten. Und: strukturierter. Auch spannend: „Männer geben durchschnittlich etwa 7000 Kommunikationsträger pro Tag von sich, also Wörter, Tongeräusche, Körpersignale, Frauen dagegen ca. 20000“.


Frauen fühlen und sprechen, Männer brauchen was Anderes


Die Kernaussagen seines Vortrags lassen sich dementsprechend in drei Thesen zusammenfassen, die Kirschstein wie folgt formuliert: 1.) Frauen trauern nach außen - Männer trauern im Innern. 2.) Frauen suchen in der Trauer die Gemeinschaft - Männer suchen das Alleinsein. Und 3.): Frauen fühlen sich durch die Trauer - Männer denken sich durch die Trauer. Kein Wunder also, dass diese völlig anders erlebten Gefühle immer dann ein Problem werden, wenn ein Paar gemeinsam damit konfrontiert wird. Da erlebt die Frau ihren Partner oft als gefühlsarmen Klumpen: „Mein Mann trauert gar nicht richtig“, lautet oft der Vorwurf. Eine Trennung ist dann nicht unwahrscheinlich. Doch das muss nicht sein.


Immer die Kontrolle behalten - auch bei Ohnmacht


Im Bearbeiten von Leid und Trauer ticken Männer tatsächlich ganz anders als Frauen, davon ist auch der Seelsorger Günter Oberthür überzeugt, der sich ebenfalls zu einem Spezialisten für dieses Thema entwickelt hat. „Männertrauer findet statt“, sagte der 58-Jährige im Herbst 2015 zur „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Nur anders.“ Und: „Sie ist ein viel größeres Thema als man gemeinhin merkt und denkt“. Denn was Frauen am liebsten im Gespräch bearbeiten, also redend, ist bei Männern oft hinter Alleinesein oder Aktivitäten versteckt, hat Oberthür beobachtet. Die Kontrolle behalten, gefasst bleiben, selbst, wenn die Umstände noch so gegen einen sind – das ist den Herren wichtiger als den Frauen, betont der Theologe, der auch schon für das Bistum Osnabrück als Männer-Seelsorger arbeitete.


Was Männer in Trauer brauchen: Andere Männer


 „Männer neigen dazu, Gefühle der Trauer abzuwehren oder abzuspalten“ – so formuliert es ein anonymer Ausfüller eines Fragebogens zum Thema, der an einer Aktion des Ambulanten Hospizdienstes Husum teilgenommen hat, die im Buch „Männer trauern anders“ ebenfalls zitiert wird. Was Männern in einer solchen Krise helfen kann, bringt der Seelsorger Günter Oberthür auf den Punkt: „Männer brauchen andere Männer“. In der Natur sein, im Feuer etwas verbrennen, sich den Widerständen aussetzen (und seien sie nur Wind und Regen), gemeinsam nebeneinander gehen, aber sich nicht anschauen müssen, wenn die Gefühle ins Wort kommen, all das sind Dinge, die Männern gut helfen können in einem Krisenprozess. Denn: „Der Schlüssel für Männer ist es, die Dinge selbst im Griff zu behalten“, betont Oberthür: „Auch dann, wenn man eigentlich am Boden liegt und die Ohnmacht einen niederdrückt.“

Er spürt die Anwesenheit seiner toten Frau


Wie intensiv das Leiden der Männer sein kann, das zeigen ebenfalls die anonymen Berichte im Buch von Dr. Martin Kreuels: Da gibt es den 52-jährigen Controller, der immer wieder in Traumreisen das direkte Gespräch mit seiner verstorbenen Frau suchen und sie um Rat fragen muss oder beispielsweise den 54-jährigen Unternehmer, der die Präsenz seiner Frau in jedem Raum der Wohnung spürt. Erdrückend spürt.


"Man hört sich nicht mehr leben" - schreibt einer, der es weiß


Der vielleicht prominenteste „bekennende männliche Trauernde“ ist der britische Literat Julian Barnes, der in seinem ergreifenden Buch „Lebensstufen“ all seine Gefühle rund um den Tod seiner Frau offenlegt und sie in großartige Worte zu verpacken versteht. „Man hört sich nicht mehr leben“, schreibt Barnes beispielsweise. „Und wie fühlt man sich so? Als wäre man aus ein paar Hundert Metern Höhe abgestürzt, bei vollem Bewusstsein, wäre mit den Füßen voran mit solcher Wucht in einem Rosenbeet gelandet, dass man bis zu den Knien darin versank, und beim Aufprall wären die Eingeweide zerrissen und aus dem Körper herausgeplatzt.“ Britisch nüchtern, wie Barnes auch immer wieder ist, fügt er noch an: „Kein Wunder, dass manche auf ein ungefährlicheres Gesprächsthema ausweichen wollen.“


Männer in einer Krise - das ist doppeltes Leid


Der Superintendent Dr. Helmut Kirschstein trifft es exakt, wenn er in seinem Vortrag betont, wie traurig ihn die Trauer der Männer mache: „Letztlich verstärkt das typische Trauerverhalten der Männer allzu oft die Lebenskrise, in der sich Menschen in einer Verlustsituation ja ohnehin schon befinden. Geteiltes Leid ist dann tatsächlich nicht halbes Leid - sondern doppeltes Leid.“


---------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Alle aktuellen Termine, Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare etc. mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Den Blog zum Anhören als Podcast - bitte hier klicken für die aktuelle Episode aus dem Trauer-ist-Leben-Podcast...

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wenn Töne und Texte die Seele ins Schwingen bringen, Teil #01: Serie über Trauer und Musik - die besten Songs und Alben über Trauer und Tod 

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen