Denn diese Unfallkreuze sind für sich betrachtet eine ganz neue Form von Symbol, so hat es die Soziologin Christine Aka formuliert. „Das Kreuz“, schreibt sie; „ist individuell umgedeutet“ – als „überkonfessionell verwendetes Todessymbol“. Weniger christlich zu verstehen als vielmehr als Hinweis darauf, dass hier, an dieser Stelle, der Tod stattgefunden hat – und tatsächlich gibt es kaum eine Unfallstelle ohne Kreuz, wie eine immer wieder aktualisierte Ausstellung das Landkreises Osnabrück zeigt, über die ich kürzlich geschrieben habe.
Die inzwischen in Münster lehrende Volkskundlerin hat zwischen 2000 und 2003 zum Thema Unfallkreuze geforscht und eines der wenigen, wenn nicht gar das einzige Buch zum Thema veröffentlicht („Unfallkreuze – Trauerorte am Straßenrand“ erschien im Waxmann-Verlag), außerdem hat sie einen bemerkenswerten und sehr klugen Zeitschriftenbeitrag geschrieben, aus dem hier zitiert werden wird (Zeitschrift: „Alltag im Rheinland“, herausgegeben vom Landschaftsverband Rheinland, 2010)
So ein Tod bringt "dramatische Anforderungen an die Psyche"
„Gerade der gewaltsame Tod führt zu dramatischen Anforderungen an die Psyche des einzelnen Trauernden. Individuelle Psychologie, also Gefühle, und gesamtkulturell interpretierbare Phänomene gehen in der Trauer eine komplexe Verbindung ein,“ schreibt Aka in diesem Text. Aber nicht nur im Straßenverkehr, auch an anderen Stellen lassen sich immer mal wieder wilde Trauerstätten außerhalb der Friedhöfe finden – beispielsweise in der Osnabrücker Innenstadt. Und damit wird dieses Phänomen besonders interessant.
Denn es zeigen sich darin neue Formen von Trauerkultur. Das sieht auch Christine Aka so: „Unbestreitbar zeigen die heutigen Unfallkreuze ein Bedürfnis, vielleicht eine Sehnsucht nach neuen Umgangsformen mit Trauer. Solche Trauerhandlungen werden gerne als neue Trauerrituale bezeichnet“. Was sich hier zeigt, ist nach Akas Worten die Folge von zweierlei Entwicklungen: „Der Umgang mit dem Tod ist heute ein individuelles Problem, da es keine konkreten Verhaltensmuster mehr gibt, die einem helfen, „das Richtige zu tun“. Daher würden diese wilden Trauerstätten auch zu einem „Hinweis auf Schmerzzonen, für die kaum eine andere Ausdrucksformen zur Verfügung stehen.“
"Personen auf der Fahrbahn" - unterwegs zur Todesbewältigung?
Diese klugen Beobachtungen machen verstehbar, warum Trauernde gerne an diese Orte zurückkehren, an denen, salopp gesagt, „es geschehen ist.“ Ich bin selbst einmal in einer journalistische Recherche der These nachgegangen, dass die so oft im Verkehrsfunk gehörte Meldung von „Personen auf der Fahrbahn“ in Wahrheit auf Trauernde zurückzuführen ist, die einen Unfallort aufsuchen. Eine These, von der ich nach wie vor überzeugt bin – die ich allerdings derzeit nicht nachweisen kann, weil weder Polizei noch andere Trauerbegleiter noch Seelsorger mir diese Ahnung bestätigen konnten, geschweige denn sie mit Zahlen oder Fakten untermauern konnten. Also bleibt es eine gefühlte Spur, der ich zwar weiter nachgehen werde, für die ich aber andere Aufspürmittel finden muss. Aber zurück zur Wissenschaft.
Christine Aka schreibt in ihrem klugen Text weiter: „Mir scheint es dabei um eine Art therapeutischer Handlungen zu gehen.“ Und an dieser Stelle wird es besonders interessant, weil sich in den klugen Beobachtungen der Wissenschaftlerin vieles finden lässt, was Trauernde als hilfreich beschreiben. Also nicht allein das Aufsuchen eines Trauerortes, sondern beispielsweise das Gefühl, dem Verstorbenen dort besonders nahe sein zu können. Das gilt für den Besuch am Grab genauso wie für den Besuch der Totenstätte.
Dort sein können, wo die letzten Sekunden stattgefunden haben
Das bestätigen auch Akas Beobachtungen: „Der Ort hat damit fast die Funktion eines mythischen Platzes, an dem dem Verstorbenen real nahe zu kommen meint, näher als beispielsweise auf dem Friedhof, an seinem Grab. Denn an der Stelle des Unfalls erscheinen die letzten Momente eines Lebens den Hinterbliebenen fast konserviert, im Raum anwesend.“ Der Unfallort sei damit auch „ein Ort einer merkwürdigen unspezifischen Transzendzenzgläubigkeit“, die aber mit katholischen Vorstellungen wenig gemein habe.
Klassische Form von Todesbewältigung - inklusive Transzendenz
Denn: „Die unwiderruflich Abwesenden werden imaginär präsent gemacht, sie werden beschenkt, angesprochen, in das Leben integriert“, formuliert es die Wissenschaftlerin: „Hier findet auf allen Ebenen ein symbolischer Austausch zwischen den Lebenden und den Toten statt, eine klassische Form von Todesbewältigung und für jede Art von Umgang mit Transzendenz grundlegend.“ Somit würden diese wilden Trauerstätten die Betrachter auch anregen, über aktuelle Formen des Redens über Trauer und des Zeigens von Trauer nachzudenken. Oder anders formuliert..:
Der Sinn der Trauerstätten ist die Sinnsuche
„Als Indiz für öffentliche Trauer regen Unfallkreuze damit zum Nachdenken über heutige Formen von sinnstiftenden Ritualen und individueller Spiritualität an“, heißt es auf dem Klappentext des zu der Forschungsarbeit gehörenden Buches aus dem Waxmann-Verlag. Oder wie Christine Aka es so in ihrem Zeitschriftentext schreibt: „In einer neuen Art kombiniert, haben diese Bedeutungsaktualisierungen gerade ihren Sinn darin, nach Sinn zu suchen“.
Mehr zum Thema auf noz.de: Gedenkstätten an Unfalllorten
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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung in Osnabrück sowie im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Mehr Infos gibt es hier.
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