Donnerstag, 17. Juni 2021

Mein zweiter Mutmacherbrief an Trauernde: Ein paar Zeilen für Dich, über die manchmal merkwürdigen, manchmal schlimmen Gedanken, die Du vielleicht hast - wenn Du vor Dir selbst erschrickst


Lieber mir unbekannter Mensch, 


(oder vielleicht kennen wir uns auch schon persönlich, dann ist ja umso besser...): Vielleicht kennst Du das auch? Du hast einen Menschen verloren, der Dir wichtig war, und hast jetzt manchmal ganz merkwürdige Gedanken, vor denen Du selbst richtig erschrickst? Oder die Dich zumindest zum Staunen bringen, weil Du nie gedacht hast, dass Du solche Gedanken haben kannst? Zum Beispiel wenn Dir jemand erzählt, dass ein anderer Mensch, den Du vielleicht entfernt kennst, an Krebs erkrankt ist - und Du fragst Dich dann: Hätte dieser Erkrankte nicht sterben können? Und nicht der Mensch, den ich verloren habe? 


Vielleicht gehst Du manchmal irgendwohin, wo andere Menschen sind, in einen Park, in ein Café, irgendwas, und würdest am liebsten all die anderen Menschen verfluchen, die Du dort siehst? Weil sie so fröhlich lachen, weil sie so unbeschwert rüberkommen, weil ihre Leben so unversehrt zu sein scheinen, während Dein Leben mit dieser neuen Tragik vollgesogen ist, die Du so gerne loswerden möchtest? Kennst Du das auch? Und falls ja, hast Du Dich jemals getraut, diese Gedanken jemanden anderem mitzuteilen? 

Wenn es nicht Menschen gäbe, die mir davon berichtet hätten, dass es ihnen so gegangen ist, dann könnte ich nicht ruhigen Gewissens schreiben, dass solche Prozesse etwas ganz Normales sind. Also: Normal im Kontext eines Trauerprozesses. Denn das ist eben manchmal eine kolossale Ausnahmesituation. Bei manchen Menschen war es ganz oft so. Bei anderen nur manchmal. Wieder bei anderen hat es sich abgewechselt: Mal waren sie sehr intensiv mit solchen Gedanken konfrontiert, mal weniger. Und auch das ist alles: Ganz normal. Ehrlich. Es geht ja in Wahrheit gar nicht darum, dass Du anderen Menschen etwas wirklich Schlechtes wünschen würdest, oder? Es geht doch vor allem darum, dass Du nicht mehr so krass leiden möchtest. Und dass es Dich genauso wütend wie traurig macht, wenn Du das Gefühl haben musst, dass nur Du so leiden musst und alle anderen eben nicht. Da kann einem schon mal die Hutschnur platzen. 

 
Dir ist etwas widerfahren, dass Dir sehr, sehr wehgetan hat, dass Dich einmal komplett durchgeschüttelt hat, von oben bis unten, bis auf den Grund Deiner Seele, und dass Dich jetzt in eine Gefühlssituation gebracht hast, die Du vielleicht als sehr belastend erlebst. Oder als irgendwie unnormal. Aber warum solltest Du jetzt auch normale Gefühle haben, wenn Dir der Tod eines anderen Menschen gerade so sehr zu schaffen macht? Ist nicht der Tod eines anderen Menschen eine so unnormale Situation - jedenfalls für Dich! -, dass es völlig okay ist, wenn man dadurch auch in unnormale Prozesse hineingerät? Der Psychiater Viktor Frankl hat das sinngemäß in einem Satz zusammengefasst, in dem er sagt (ich zitiere aus dem Gedächtnis): In einer unnormalen Situation ist jede unnormale Reaktion etwas ganz Normales.

Das finde ich so treffend, dass ich diesen Satz oft und gerne zitierte (und wer mich kennt, der hat ihn sicher schon einmal von mir gehört) - weil er auch auf den Trauerprozess so exakt zutrifft. 

Es gibt ein Davor und ein Danach, das ist ein Satz, der im Zusammenhang mit Trauer oft zu hören ist. Die meisten Menschen, die einen solchen Trauerfall erlebt haben, von dem sie so richtig durchgeschüttelt worden sind, erleben ihr Leben als in diese zwei Teile aufgeteilt: Das Davor. Und das Danach. Das irgendwie anders ist. Überfordernd und herausfordernd und gemein und durchzogen von Gefühlen, die Du nicht mehr haben möchtest. Das kann ich gut verstehen. 


Ich habe vorhin einmal die Formulierung benutzt, dass Dein Leben jetzt vielleicht mit Tragik "vollgesogen" ist. Darin steckt das Bild eines Schwammes, der schon soviel Wasser aufgenommen hat, dass er ganz schwer und schlapp geworden ist. Nur ein ganz kleiner Stuppser reicht jetzt aus und aus dem Schwamm schwappt eine kleine Fontäne raus. So ist das vielleicht auch in Deinem Leben: Du bist bis oben vollgesogen mit Trauer, bis zum Rand gefüllt damit - und wenn dann einer kommt und Dir etwas erzählt von "den anderen", dann schwappt so eine Fontäne aus Dir raus. Und je nachdem, wie es Dir gerade allgemein so geht, ist diese Fontäne auch mal ein gemeiner Gedanke. Aber immerhin ist er rausgeschossen. Also bist Du dieses kleine bisschen an Zuviel schon mal losgeworden. Ist doch auch was. Auch wenn da noch ganz schön viel an Zuviel in Dir drinsteckt. 

Oft ist die Rede davon, dass wir Menschen versuchen sollten, eine tiefe Freundschaft mit uns selbst zu schließen. Eine Freundschaft, die von soviel Aktzeptanz und Geduld und Hinwendung geprägt ist wie die allerbeste Freundschaft, die man sich vorstellen kann. Das ist eine kolossal schwierige Aufgabe - mir selbst ist es nach über 45 Jahren Lebenserfahrung noch nicht wirklich gelungen, so tief und intensiv mit mir selbst befreundet zu sein (dafür habe ich noch immer viel zu viele Macken, die immer wieder ausbrechen), aber darum soll es hier jetzt nicht gehen. Nur darum: Eben weil Du jetzt in einer Ausnahmesituation steckst und weil diese Situation noch eine ganze Weile so bleiben kann, kann ich Dich nur ermuntern, dass Du Dir selbst vieles durchgehen lässt, was Du Dir sonst vielleicht untersagt hättest. Das ist okay, gräm Dich nicht deswegen. Dafür bist Du einfach zu vollgesogen. 

Feuchte Schwämme saugen übrigens viel besser als ganz trockene. Und vielleicht bist Du auch schon mal ganz überrascht gewesen, wieviel mehr an Wasser so ein Schwamm so aufnehmen kann als zuvor gedacht. Du vielleicht auch?

Herzliche Grüße, Thomas.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen