Freitag, 21. Februar 2020

Das ganze Spektrum von Trauer und Verlust sichtbar machen - das ist das Ziel der Ausstellung "Trauern" in der Hamburger Kunsthalle - ein Ausstellungsbesuch unter der Frage, ob die Schau auch für Trauernde geeignet ist - wie vertragen sich moderne Kunst und das Thema Trauer?

Vom Hauptbahnhof kommend, wird der Hamburgbesucher bereits vor den Säulen der Kunsthalle auf die aktuelle Sonderausstellung aufmerksam gemacht  (alle Fotos: Thomas Achenbach).

Hamburg – „Was ich verloren habe…“ Ihre persönliche Antwort auf diese Frage können alle Besucher der Hamburger Trauerausstellung auf einen kleinen Zettel schreiben und diesen dann öffentlich auslegen. „Zu viel“ hat jemand einfach nur geschrieben. „Vater“, schrieb ein anderer Besucher. Und auf einem weiteren Zettel steht: „Wenn ich das wüsste, wäre meine Trauer einfacher – es fehlt etwas“… Mit diesen wenigen Worten hat der unbekannte Besucher im Grunde genommen genau zusammengefasst, worum es in der Kunstausstellung geht: Erstens darum, auch ein so schwer greifbares Ereignis wie Trauer fassbar zu machen und zweitens darum, die vielfältigen Dimensionen von Trauer darzustellen. Durch Kunst. Vor allem die politische Seite von Trauer erfährt dabei eine besondere Bedeutung. Aber der Reihe nach.

Seit Anfang Februar und noch bis zum 14. Juni 2020 läuft in der Hamburger Kunsthalle gleich neben dem Hauptbahnhof die Sonderausstellung „Trauern“, die 32 moderne Kunstwerke umfasst, die sich allesamt – mal direkter, mal versteckter - dem Themenkomplex von Verlust und Trauern widmen. Wobei der Untertitel der Ausstellung noch deutlicher macht, wie weit der Bogen hierbei gespannt wird: „Von Verlust und Veränderung“, heißt es dort. Bei einem privaten Hamburgbesuch Anfang Februar waren mir die Plakate – die eine ikonografische Frauenträne in der grob gerasteten Comic-Optik eines Roy Lichtenstein zeigen -, schon aufgefallen, aber damals reichte die Zeit nicht.

Doch der Reiz blieb. 


Was ich verloren habe..? Das können die Besucher auf Zettel aufschreiben. 

Also bin ich Ende Februar nochmal in den Zug gestiegen – und auf nach Hamburg. Die Kunsthalle selbst war so freundlich, mir als berichterstattenden Blogger eine Pressekarte zuzugestehen (vielen Dank dafür). Zwei Fragen waren es, die meine Neugier geweckt hatten: Kann moderne Kunst, die ja doch manchmal recht sperrig und wenig zugänglich ist, wirklich ein so tiefgehendes und das gesamte System Mensch erfassendes Phänomen wie Trauer darstellen? Und: Ist eine solche Ausstellung auch für Menschen geeignet, die gerade jemanden verloren haben? Schon der Ausgangs- sowie Endpunkt der Schau macht dem Besucher deutlich: Einfach wird es sicher nicht werden, dafür aber durchaus faszinierend. Denn der Weg zur Trauerausstellung führt durch die versteckt liegenden Kellerräume zwischen Alt- und Neubau und führt direkt zu einem bemerkenswerten, auf einer riesigen Leinwand gezeigten Filmprojekt.

Sanfte Tränen als Abrissbirnen - ein eindrucksvoller Realfilm


Gezeigt wird der Abriss eines alten Wohnhauses in einem irgendwie sauerländisch anmutenden kleinstädtischen Bergumfeld – aber nicht etwa Abrissbagger sind es, die das Haus in Staub zerlegen, sondern Tränen. Beziehungsweise wie Tränen gestaltete und eindrucksvoll langsam fallende Abrissbeutel. Prallen diese auf dieses anfangs noch fast unversehrt dastehende Häuschen, reißt jede Träne etwas aus dem Bau heraus. Wohlgemerkt: Das ist alles echt, gefilmte Realität, nicht gemalt, nicht computergeneriert. Wie der Künstler Michael Sailstorfer das hinbekommen hat, bleibt sein Geheimnis. Der Auftakt ist gelungen – und er nimmt die Scheu vor dem Folgenden. Denn der große Vorteil dieser gesamten Schau ist tatsächlich: Sie bleibt angenehm zugänglich, wenig abstrakt und Gott sei Dank weit entfernt von der meistens arg überspannten Verschwurbeltheit moderner Kunst. Auch wenn manches hier Gezeigte durchaus zu Irritationen führen kann, wenn auch auf angenehme Art.


Einladung zum Mitmachen im Leseraum der Ausstellung.


So zum Beispiel beim augenzwinkernden Kunstprojekt „God“ (Gott) des isländischen Performance-Künstlers Ragnar Kjartansson, der auch schon mit der Indie-Rockband The National zusammengearbeitet hat. In diesem 30 Minuten dauernden Film steht ein Künstler im Frank-Sinatra-Outfit mit einer Big Band im Hintergrund auf einer mit pinken Vorhängen abgehängten Bühne und singt ein sich ganz langsam fortentwickelndes Lied, in dem er wie in einem Mantra ständig nur eine einzige Zeile wiederholt: "Sorrow conquers happiness" (die Trauer bezwingt das Glücklichsein). Und trotz - oder gerade wegen - dieses musikalischen Minimalismus in dieser üppigen Kulisse entfaltet das Filmchen eine gewaltige Sogkraft. Ja, es sieht fast aus wie eine irreale Traumsequenz direkt aus einem David-Lynch-Film (und ich bin ein großer Fan von David-Lynch-Filmen). Wenn Gott persönlich den Menschen also sagte, dass die Trauer am Ende immer das stärkere Ereignis sein wird, jedenfalls stärker als das Glück - Sorrow conquers happiness –, würden das die meisten Menschen, die mich wegen einer Begleitung konsultieren, sicher so unterstreichen. Aller rosafarbenen Ummantelung zum Trotz


Wenn Gott wie Sinatra singt - und alles ganz in Rosa erstrahlt


Eingebettet ist der Film, der über eine riesige Leinwand gezeigt wird, in einen passend gestalteten Raum, ebenfalls mit rosa Vorhängen darin und mit einem beinahe marmoriert wirkenden Tanzsaalboden. Alles ziemlich wuchtig und gerade deswegen besonders lustig. Überhaupt, Gigantomanie und Technik, das beides spielt eine wesentliche Rolle bei manchem des hier Gezeigten. Besonders eindrucksvoll ist beispielsweise ein Raum, in dem eine bis auf den Fußboden reichende riesige Leinwand einen Film zeigt, der in kraftvollen Farben und mit fetter Klangkulisse ein Ereignis wieder lebendig werden lässt, das die Welt veränderte: Der Eisenbahnzug mit dem Leichnam des erschossenen Robert F. Kennedy darin – des 1968 erschossenen Bruders von JFK -, der auf seiner Reise durch halb Amerika an zahlreichen ihm Respekt zollenden Menschen vorbeigefahren war, wie zuvor gezeigte echte Fotos belegen.


Unter dieser Decke befindet sich im Untergeschoss der Verbindungsgang vom Neu- zum Altbau.

Der nachgestellte Film auf der Mammutleinwand zeigt das Ereignis aus der Perspektive eines im Zuge Mitfahrenden – oder vielleicht sogar des Leichnams. Wind rauscht. Üppige Felder wogen hin und her. Vereinzelte Menschen stehen wie angewurzelt in gigantische Landschaften gepflanzt, durch ihre Trauer unbeweglich geworden. Und der Zug juckelt mit seinem unaufgeregten und immerwährenden Schienenrhythmus gemächlich an ihnen allen vorbei. Auf dem Weg zum Ende. Höchst eindrucksvoll. Spätestens hier ist die Ausstellung beim gesellschaftlich-politischen Überbau des Phänomens Trauer angekommen – denn als Bobby Kennedy starb, kurz nach Martin Luther King, handelte es sich bei der Trauer des amerikanischen Volkes (und der Welt) nicht etwa um ein von einer Staatsmacht angeordnetes Gefühl, das ein Volk nun zu zeigen hatte, sondern um den realen Verlust von Hoffnung und den Glauben an eine besser werdende Welt, zumindest ein gerechteres politisches System


Wenn der Staat verordnet: Ihr habt jetzt traurig zu sein!


Passenderweise hatte die Trauerausstellung schon zuvor einen Film über verordnete Staatstrauer von meistens russisch geprägten Machtsystemen gezeigt, der den Betrachter sehr nachdenklich gemacht hat: Wieviel echte Trauer kann in einer stecken, die ein System von Dir verlangt? Geht es um die ganz private Trauer, verlässt sich die Schau übrigens fast ausschließlich aufs Fotografische. 



Die Diaschau eines in der DDR fotografierenden Künstlers zeigt ganz in Schwarzweiß das reale Familienlieben mit seiner Frau – die sich inzwischen suizidert hat, was ihren ohnehin schon eindrucksvoll melancholischen Gesichtszügen eine noch tragischere Tiefe verleiht. Eindrucksvoll ist auch die Bilderserie einer jungen Fotografin, die ein ganz normales Ehepaar bei seiner letzten gemeinsamen Urlaubsfahrt mit dem Wohnwagen begleiten durfte. Die alles erfassende Verwirrtheit der an Demenz erkrankten älteren Ehefrau lässt sich aus den Nahaufnahmen ihres Gesichts oft deutlich herauslesen und bildet einen starken Kontrast zu den sonnig-fröhlichen Urlaubsimpressionen. Und es dämmert einem beim Betrachten: Ja klar, der Verlust der eigenen Gesundheit oder des Verstands – den zu betrauern gehört zum Leben oft mit dazu. So erleben wir also Trauer in all ihren Facetten von privat über gesellschaftlich bis politisch.


Wenn Wehklagen sich als Musikcollage verdichten


Musik spielt übrigens auch eine große Rolle. So hat die Künstlerin Susan Philipsz mehrere Räume mit Klangcollagen gestaltet, die auf irischen Wehklagen oder schottischen Trauerliedern basieren. Eindrucksvoll ist der Raum, der den Blick freigibt auf die Binnenalster und in dem sich ein dreifach in verschiedener Weise gesungenes schottisches Klagelied zu einem einzigen Klang verdichtet. So könnten sich Tod und Trauer anhören, gleichsam sphärisch und mystisch wie melancholisch, stimmt schon.


Raum für eine Klangcollage - hier gibt es mehrfach gesungene Melancholie.

Aber ist die Ausstellung auch gut geeignet für Menschen in einer tatsächlichen Trauer- und Verlustkrise? Während ich innerlich noch immer an dieser Frage hänge, führt mich mein Weg am öffentlich ausliegenden Gästebuch vorbei, in das sich jeder eintragen kann, der mag. „Ich habe vor kurzem meine Liebste verloren“, hat ein unbekannter Gast an diesem Freitag, dem 21. 2. dort hineingeschrieben. Und außerdem: „Genau richtig, hier zu sein“.


Über Tod und Trauer reden sollte man schon lange vorher



Scheint also zu passen. Doch was noch viel wichtiger ist: Die Ausstellung rückt die Themen Tod, Trauer und Sterben ins Bewusstsein auch der Menschen, die gerade nicht damit konfrontiert sind. Und genau darum geht es doch - sich diesen Themen schon dann zu stellen, wenn sie sich uns gerade nicht in Form einer seelischen Krise aufdrängen. Weil: Dann ist es schon zu spät. Also: Danke, Hamburg. Und an alle: Hingehen und angucken (bis zum 14. Juni 2020).



Alle Infos sowie das Programmheft zum Downloaden gibt es auf der Website www.hamburger-kunsthalle.de. Die Ausstellung „Trauer. Von Verlust und Veränderung“ ist in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Adresse: Glockengießerwall 5. Öffnungszeiten von Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Donnerstagabend Sonderöffnung bis 21 Uhr. Eintritt 14,-/8,- (ermäßigt).

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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