Donnerstag, 31. Dezember 2020

Als besonderes Bonbon zum Jahreswechsel 2020/2021: Ein Essay von meiner Frau, das bislang nicht erschienen ist - wie Cornelia Achenbach einmal einen mutmachenden Ausblick auf 2021 schreiben sollte (und dann doch nicht)

Osnabrück - Irgendwann im Laufe dieses Silvesternachmittags schickt mir meine Frau eine E-Mail mit Anhang. Tenor: Guck mal, das wäre meine Version gewesen von dem Essay, das heute erschienen ist (hoffnungsvoller Ausblick 2021). Ein Kollege der Neuen Osnabrücker Zeitung hatte ihr gesagt, dass sie eventuell einen entsprechenden Text schreiben müsste - dazu kam es am Ende nicht; ein anderer Kollege aus dem Feuilleton hat diese Aufgaben dann übernommen. Doch der Text war schon im Kopf. Und deswegen jetzt hier - als Gastbeitrag, von Cornelia Achenbach:  

Ich habe einen Arbeitsauftrag. Ich soll einen Text schreiben, das ist mein Job. Einen Text, der Mut machen soll. Ein Ausblick auf das neue Jahr.

Ich sitze in meinem improvisierten Arbeitszimmer in Osnabrück und blicke nach draußen. Es regnet, schon wieder. In den Kinderbüchern meiner Tochter schneit es zu dieser Jahreszeit immer. Seit sieben Jahren wartet sie auf weiße Weihnacht. Sie wird es schon noch lernen.

Das RKI meldet 32.552 Corona-Neuinfektionen und 964 neue Todesfälle. Ich versuche meinen Kollegen am Handy zu erreichen: Entschuldige, ich kann diesen Text nicht schreiben. Gibt es nicht irgendwas Konkretes, über das ich berichten kann? Wird irgendwo eine Straße gesperrt? Ein Gebäude eingeweiht? Ein Scheck übergeben?

Ich erreiche ihn nicht.

964 Todesfälle mal die dazugehörigen Familien, Freunde, Nachbarschaften, Arbeitskollegen. Wie könnte ich da den zugelassenen Impfstoff zu einer großen Hoffnungsblase aufpumpen, irgendetwas salbadern vom Licht am Ende des Tunnels, mir Sätze aus Literatur und Geschichte ziehen, die zwar nicht trösten, dafür gebildet klingen?


(Foto: Pixabay.com, Cc-0-Lizenz)


Ich habe meinen Bruder seit August nicht gesehen. Viele meiner besten Freunde seit Wochen nicht mehr. Weil wir vernünftig sind. Weil wir uns lieb haben. Ich sehne mich nach einer Zeit, in der ich weder Angst noch ein schlechtes Gewissen haben muss, wenn ich meine Familie und Freunde treffe.

Wen sehe ich überhaupt noch? Mein improvisiertes Arbeitszimmer und den Osnabrücker Regen, meinen Mann und mein Kind und den eng gezogenen Radius um unser Haus. Ich muss an dieser Stelle unbedingt einschieben, dass wir privilegiert sind, uns geht’s ja so gut, wir sind gesund und haben keine finanziellen Sorgen, wir haben ein Haus und einen Garten, das muss unbedingt in diesen Text rein.  

Ich lese, dass es Probleme mit der Lieferung des Impfstoffes gibt. Dass Israel viel schneller mit dem Impfen voran kommt als wir. Und dass dieser daran Schuld trägt oder jener, dass jetzt endlich Köpfe rollen sollen.

Im Wohnzimmer läuft schon das dritte Hörspiel der „Fünf Freunde“ an diesem Morgen. Ich muss ja diesen Text schreiben, ich habe jetzt keine Zeit zum Spielen. Fünf Haushalte und Timmy, der Hund. Der zählt nicht. Meine Tochter will ihre Freundinnen sehen. Aber ob das so gut ist? Schule wird’s so bald vermutlich nicht geben, ich muss dringend mal meine Urlaubstage durchzählen. Das könnte ich dem Kollegen, der mir diesen Arbeitsauftrag gegeben hat, auch gleich noch mitteilen. Ich wähle noch mal, aber niemand geht ran. Ich schreibe ihm eine Email: Ruf mich bitte mal zurück – ich habe noch keinen einzigen brauchbaren Satz geschrieben. Ich kann keine Hoffnung machen auf irgendwas, sorry.

Wir diskutieren über Grundrechte, Privilegien und sind alle müde. Ich weiß von Menschen, die in diesem Jahr alleine im Krankenhaus sterben mussten.

Impfstoff, Frühling, alles wird gut? Mir ist zum Heulen zumute.

In meinem Umfeld hat es immer Menschen gegeben, die gegen Depressionen ankämpfen mussten. Ich erinnere mich an einen Kommilitonen, der nicht mehr in der Lage war, sein Bett zu verlassen. Der morgens aufwachte und plötzlich nichts mehr fühlte. Er sagte mir, er fühle sich innerlich tot. Eiskalt. Da sei keine Melancholie, er sei nicht traurig, da sei einfach nichts.

Ich kann nicht für die Gesellschaft sprechen, Gott bewahre. 


(Foto: Thomas Achenbach)


Das große Wir macht mir Sorgen. Ich kann nur über die Menschen schreiben, die mich umgeben. Und die stecken derzeit in keiner Depression. Sie sind traurig.

Und das ist gut. Das ist vielleicht das einzig Gute, das ich derzeit wirklich sehen kann. Dass wir uns vermissen. Dass es verdammt schwer fällt, auf Abstand zu gehen und sich nicht zu umarmen. Und dass da noch so viel über Achtsamkeit oder Entschleunigung geschrieben werden kann – da draußen sind Menschen, die wir lieb haben und denen wir nah sein wollen. Ich will, dass sie alle noch da sind, wenn ich geimpft bin, wenn sie geimpft sind. Ein Mut machender Hoffnungsschimmer für 2021 ist das vielleicht nicht. Aber mein allergrößter Wunsch.

Mein Kollege ruft an. Ich muss keinen Text schreiben. Das übernimmt ein anderer. Besser ist es. Ein frohes Neues.

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Mittwoch, 30. Dezember 2020

Wie lässt sich Trauer aushalten, was kann mir helfen? - Eine persönliche kleine Trauer-Presseschau zum Ende des Jahres 2020: Drei lesenswerte Artikel über Tod, Trauer und Sterben und Vorsorge - für Euch gesammelt als Lesetipps und persönliche Empfehlung

Osnabrück - Eine junge Frau, deren Cousine ermordet worden ist. Eine Bestatterin, die ihren Kindern ganz gut erklären kann, was sie da beruflich tut, aber selbst ins Weinen kommt, wenn ein vier Jahre alter Junge ruft: Ich will meinen Papa zurück. Und eine junge Frau, die es als einen "Akt der Liebe" ansieht, den eigenen Tod für seine Angehörigen gut vorzuplanen und vorzuorganisieren. Im Laufe des Jahres sind mir eine ganze Reihe von bemerkenswerten Blog- und Zeitungsartikeln untergekommen, die ich als Lesetipps hier einmal zusammengestellt habe, zum Abschluss dieses denkwürdigen Jahres 2020. 

1.) Der Tod ihrer Cousine ist ein "Femizid", also ein Mord. "Unser Umfeld ist mit der erfahrenen Endlichkeit überfordert und zieht sich meist schweigend zurück", schreibt Klara Charlotte Zeitz in ihrem lesenswerten Text. "Das drängt die Trauernden in einen Raum der Stille. Die Stille danach ist das Lauteste". Den ganzen Artikel gibt es unter diesem Link... 


(Foto: Pixabay.com/Peggy Marco, Zypern, Cc-0-Lizenz)


2.) Eine junge Bestatterin mit Familie über ihre Arbeit - "Der Tod ist manchmal sehr dreckig“, sagt sie. "Er bringt vielerlei Wahrheiten ans Licht und hat furchtbare Eigenschaften im Gepäck." Allerdings, so sagt sie weiter, meint sie damit nicht die Toten selbst. Den ganzen Artikel gibt es unter diesem Link...
 

(Foto: Thomas Achenbach)


3.) Warum Vorsorge für den eigenen Todesfall so wichtig ist - als Liebesdienst für seine Angehörigen, das ist oft schon Thema auf diesem Blog gewesen. Umso mehr habe ich mich gefreut, diesen Artikel zu finden: "Was morbide klingt, ist das Liebevollste, das du für deine Angehörigen tun kannst. Je mehr geklärt ist, desto besser für die, die zurückbleiben. Und für dich", schreibt die Autorin Jessica Wagner. Den ganzen Artikel gibt es unter diesem Link...


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Mittwoch, 9. Dezember 2020

Fünf ermutigende Ereignisse des Jahres 2020, die im Hinblick auf die Themen Trauer, Tod und Sterben besonders wichtig waren und eine Vision von der Zukunft der Trauerbegleitung in Deutschland - ein Jahresrückblick zum Ende des ersten pandemischen Corona-Jahres

Osnabrück - Es war ein richtungsweisendes Jahr, dieses Coronajahr 2020 - auch und vor allem im Hinblick auf die Themen Tod, Trauer und Sterben. Hier sind fünf meiner Meinung bemerkenswerte Ereignisse, die eine Nachbetrachtung verdient haben und die uns noch weiter beschäftigen werden und auch sollten. Auch wenn es unpassend zu sein scheint, bei dem vielen Leid und den vielen zusätzlichen Nöten, die dieses Jahr über uns gebracht hat, von "Ermutigungen" zu sprechen, gibt es doch Ereignisse, die gerade in der Krise ein wenig Hoffnung gemacht haben und die die richtigen Schlaglichter gesetzt haben. Hier sind sie:

1.) Wie Herzogin Meghan allen Eltern Mut macht, über ihre Fehlgeburten zu sprechen und diese nicht verschämt in der Schweigezone zu verstecken: In einem persönlich verfassten Artikel für die "New York Times" machte die Herzogin ihre Schmerzen und Erfahrungen rund um eine im Sommer erlebte Fehlgeburt öffentlich. Und sie lobt in ihrem Text, sinngemäß, alle Menschen, die offen über ihre schmerzvollen Lebenserfahrungen wie eine solche sprechen können und ermutigt ihre Leserinnen und Leser, genau das zu tun. Meghan bezeichnet solche Menschen als Türöffner. "Dadurch, dass wir eingeladen sind, unseren Schmerz zu teilen, unternehmen wir gemeinsam die ersten Schritte zur Heilung" - was die Herzogin hier formuliert, ist letztlich die Quintessenz von Trauerbegleitung. Und in diesen Zeiten, in denen eine professionell angebotene Trauerbegleitung immer öfter ein Opfer der pandemischen Auflagen wird, ist es umso wichtiger, dass auch in Familien- und Freundeskreisen über all das Schwere und Schmerzvolle in einer wertschätzenden Atmosphäre gesprochen werden kann, daran könnten wir als Gesellschaft weiter arbeiten. Was ich mir jetzt noch wünschen würde und was die Sache perfekt machen würde: Einen genauso offenen Artikel ihres Mannes, Prinz Harry, darüber, wie er diese Fehlgeburt erlebt hat. Denn das Leiden der Väter bei einem solchen Ereignis bleibt noch viel zu oft unbeachtet - es bleibt ein stilles Leiden. Das muss es nicht sein. 

Raus aus der verschämten Verschwiegenheit: Verwaiste Eltern (alle Fotos: Thomas Achenbach).

2.) Wie das Bundesverfassungsgericht uns alle auffordert, über Sterben und Lebenssinn neu nachzudenken: Es war die größte Überraschung des Jahres, niemand hatte damit gerechnet, dass dieser Urteilsspruch so radikal ausfallen würde. Und doch lässt sich das, was das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 gesprochen hat, folgendermaßen zusammenfassen: Jeder hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben - und das sogar jederzeit. Wobei das Bundesverfasssungsgericht nicht damit gemeint hat, dass dem Suizid jetzt kein Einhalt mehr geboten werden sollte, sondern dieses Urteil ist vielmehr als Aufforderung an die Politik, die Gesetzgeber und die Gesellschaft zu verstehen, bitte andere und bessere Regeln zu schaffen als die bisherigen. Ich mag dieses Urteil gerade wegen seiner Radikalität so gerne, öffnet es doch Türen und Möglichkeiten und zwingt uns alle, uns mit dem Thema Sterbehilfe neu auseinanderzusetzen. Als Gesellschaft - und als darin lebender Mensch. Gleichsam ist es eine Aufforderung an alle, die im Hospiz- und Palliativkontext unterwegs sind, über eine sinnvolle Öffentlichkeitsarbeit nachzudenken. Selten zuvor war es wichtiger, zielgerichtet über die weitreichenden Linderungsmöglichkeiten und Angebote zu informieren, die die Palliativmedizin heutzutage bringen kann; selten zuvor war es wichtiger, dass Hospize in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als Orte eines Dahinsiechens gesehen werden, sondern als gar nicht so  unangenehme, vielmehr wertvolle Einrichtungen, in denen vor allem die Qualität des Lebens zählt. Gleichsam ist das Urteil für jeden Menschen in diesem Land ein Aufruf, sich zu informieren und seine persönlichen Verfügungen entsprechend zu formulieren: Wie geht Sterben in unserer modernen Gesellschaft, was ist alles möglich, was nicht, was könnte das für mich bedeuten?


3.) Wie die Initiative „Niemand sollte alleine sterben“ ganz kurzfristig die digitale Sterbebegleitung durch Tablets etabliert: Die Pandemie in Deutschland war kaum einen Monat alt, als der Hospiz- und Palliativverband Schleswig-Holstein im April 2020 die Zeichen der Zeit erkannte und einen Pilotversuch startete, der ebenso bahnbrechend wie zukunftsweisend ist. In Kooperation mit dem Städtischen Krankenhaus in Kiel und dem Institut für Informatik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel wurde kurzerhand die Möglichkeit der Sterbebegleitung durch Tablets geschaffen. Weil viele der Menschen, deren Sterbeprozess im Zusammenhang mit einer Infektion durch das Coronavirus stand, zu einem ganz isolierten und einsamen Sterben unter höchsten Quarantäneauflagen gezwungen waren, erkannte die Initiative die dadurch ausgelöste seelische Not und versuchte, sie zu mindern. Drückt man den Sterbenden ein Tablet in die Hand, über das der Begleiter mit ihnen Kontakt aufnimmt (der sich vielleicht sogar im Nachbarraum befindet), sind sie nicht ganz so alleine in ihrem Alleinesein. Das Projekt war ein voller Erfolg, unter anderem auch, weil Banken und andere Geldgeber erkannten, wie öffentlichkeitswirksam und zeitgerecht sie als Spender wahrgenommen werden können. Und weil wir, derweil ich diese Zeilen schreibe, bei uns in Deutschland mit so vielen Toten wie noch nie im Zusammenhang mit Covid-19 und dem Coronavirus zu tun haben, gewinnt das Projekt aktuell wieder mit jedem Tag an Wichtigkeit. 


4.) Wie der Live-Stream einer Trauerfeier zum von allen gefragten Standard wird und sich die Bestattungsbranche immer mehr darauf einstellt: Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der war die Fernsehübertragung einer Trauerfeier ein Merkmal für die Prominenz des gestorbenen Menschen. In Coronazeiten werden wir jetzt alle ein bisschen gleicher: Die Trauerfeier per Livestream in einen gesonderten Internetbereich zu übertragen (idealerweise per Passwort geschützt und nur eingeladenen Zuschauern zugänglich) oder sie aufzuzeichnen und später z. B. als DVD zur Verfügung zu stellen, macht es den vielen nicht zugelassenen Gästen möglich, sie dennoch verfolgen zu können. Und nicht zugelassen sind, je nach aktuellen Coronaregeln, derzeit eine ganze Menge an Menschen, denen es vielleicht ein Bedürfnis gewesen wäre, an der Trauerfeier teilnehmen zu können. Natürlich kann diese digitale Teilhabe ein Dabeisein vor Ort nicht ersetzen, aber sie ist immer noch besser als gar nicht teilhaben zu können. Als die ersten Bestatter noch vor der Coronakrise zaghaft damit anfingen, den Livestream von Trauerfeiern anzubieten, blieben sie vorsichtshalber in einer dezenten Verteidigungshaltung: Natürlich gehe es nicht darum, die Trauerfeier in Gänze ins Internet abzuschieben, hieß es auf deren Websites. Heute gehört die digitale Ausweitung einer Trauerfeier fast schon zum allgemeinen Standard, weil sonst zu wenig Gäste etwas davon mitbekommen. Sollte es einmal bessere Zeiten geben, wird es vielleicht bei einer Mischform bleiben. Das könnte für alle ein Gewinn sein, erstens, weil es ein späteres Nacherleben der Trauerfeier möglich machen könnte (Stichwort: Aufzeichnung via DVD etc.), was für manche in ihrem Trauerprozess hilfreich sein könnte, zweitens weil gebrechlichere Menschen trotzdem eine Chance hätten, an der Trauerfeier teilnehmen zu können.

 

5.) Wie sehr sich die professionelle Trauerbegleitung langsam, aber mit der nötigen Ernsthaftigkeit zu wandeln beginnt: Was noch während des ersten Lockdowns im März für viele undenkbar schien, hat gegen Ende des Jahres auch die Trauerbegleitung erreicht: Gruppentreffen in Form von Telefon- oder Videokonferenzen, Begleitungen über den Bildschirm. In Sachen Datenschutz bleibt das sensibel, aber immerhin ist es eine Möglichkeit, immerhin ein Angebot aufrecht zu erhalten. Das sind erste wertvolle Schritte - dass sie im Vergleich mit anderen Bereichen relativ lange auf sich haben warten lassen, hat mit dem hohen Anteil an Ehrenamt in der Trauerbegleitung zu tun. Der auch ein Mitgrund dafür war, dass vergleichsweise viele Angebote ausgefallen sind oder abgesagt werden mussten. Doch ziehen wir diese Umstände einmal in Betracht, ist es umso erstaunlicher, wieviel Aufbruch und Wandel tatsächlich am Ende des ersten pandemischen Jahres bemerkbar ist: Kurzfristig hat der Bundesverband Trauerbegleitung eine ganze Online-Fortbildungsreihe zum Thema Digitalisierung organisiert und gestemmt, Fortbildungsangebote beispielsweise des Landesstützpunktes für Hospizarbeit und Palliativversorgung aus Niedersachsen wurden auf dem digitalen Weg angeboten, Trauerbegleiter treffen sich zu Online-Stammtischen, der Wandel ist ebenso angekommen wie die Einsicht seiner Notwendigkeit. Das sind ermutigende erste Schritte auf einem sicherlich noch längeren Weg - für den hoffentlich auch in 2021 noch genug Engagement und Möglichkeiten übrigbleiben. Wäre ich selbst nicht kurz vor Jahresende durch Home Schooling und geschlossene Schulen (erneut) kräftig ausgebremst worden, hätte ich auch neue Angebote versuchen wollen... Also vielleicht im nächsten Jahr.  


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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